Ein Hohelied für Leibowitz
- Heyne
- Erschienen: Januar 2000
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Die Menschheit wird niemals dazulernen
Nordamerika im Jahre des Herrn 3244. Die menschliche Zivilisation, wie wir sie kennen – die ";magna civitas” -, ist zwölf Jahrhunderte zuvor im atomaren Feuer eines dritten Weltkriegs untergegangen. Ganz allmählich erst beginnen die Überlebenden, auf den Ruinen einer sagenhaft verdunkelten Vergangenheit eine neue Welt aufzubauen. Nordamerika ist noch immer ein weitgehend menschenleerer Kontinent mit strahlenverseuchten und unzugänglichen Todeszonen. In den unbelasteten Regionen haben sich zahllose Territorien gebildet, die miteinander um die Vorherrschaft ringen. Ständig verschieben sich die Grenzen, verwandeln sich Verbündete in Gegner, drohen Bürgerkriege auszubrechen. Am Rande der Zivilisation ziehen wehrhafte Nomadenstämme durch das Land, ohne sich um bestehende Grenzen zu kümmern. In abgelegenen Winkeln bemühen sich genetisch geschädigte Mutanten der Verfolgung durch ihre ";normalen” Mitbürger zu entgehen.
Zwischen allen Stühlen sitzt die Katholische Kirche. Wie einst im Mittelalter beschränkt sie sich nicht nur auf gottes- und seelsorgerische Dienste. Ein Netz von Klöstern, Pfarrkirchen und Missionsstationen überzieht Nordamerika. Hier bemüht man sich das Wissen vergangener Zeiten zu sammeln und weiterzugeben.
Die Abtei St. Leibowitz im Südwesten der untergegangenen USA ist eine dieser Bastionen von Wissenschaft und Kultur. Hier lebt und arbeitet der junge Mönch Schwarzzahn St. Georg. Der Sohn sesshaft gewordener Nomaden, der mangels Alternativen die geistliche Laufbahn eingeschlagen hat, ist wankelmütig geworden und will dem Orden den Rücken kehren. Der Abt hofft Schwarzzahn dies auszureden. Er sucht für ihn eine neue, interessante Aufgabe und schickt ihn zu Elia Kardinal Braunpony, den er als Dolmetscher in die Stadt Valana begleiten soll. Dort weilt im Exil der Papst, das Oberhaupt der Kirche und aller Christen. Ursprünglich residierten die Päpste in New Rome an den Ufern des Mississippis. Doch sie verließen die Stadt, als diese von den Truppen des Reiches von Texarkana besetzt wurde. Das seit Jahrzehnten vom Clan der Hannegans diktatorisch geführte Land bedroht den brüchigen Frieden, denn seine Herrscher sind stetig bestrebt, die Grenzen ihres Machtbereichs zu erweitern. In New Rome haben die Hanngans einen eigenen Papst eingesetzt.
Im Jahre 3244 scheint sich ein Ende des Schismas abzuzeichnen. Beide Päpste sind gestorben. Hannegan VII. signalisiert sein Einverständnis keinen eigenen Kandidaten mehr zu stellen, wenn der von den Kardinälen vorschriftsmäßig gewählte neue Papst nach New Rome zurückkehrt. Die Absicht ist klar: Hannegan hofft, seinen Einfluss auf die Kirche, die sich ihm bisher entziehen konnte, auf diesem Wege zu verstärken. Den Kardinälen, die sich in Valana zum Konklave treffen, ist dies durchaus klar. Beide Päpste hatten und haben ihre Anhänger. Die beiden Parteien suchen einander auszustechen und setzen sich dabei gegenseitig matt. Erst nach monatelangen Intrigen setzt man einen Außenseiter als Amen I. auf den Papststuhl. Im Hintergrund gehen die politischen Rangeleien unverändert weiter. Kardinal Braunpony beauftragt Schwarzzahn mit einer geheimen Mission. Er soll als Botschafter in die Mutanten-Kolonie New Jerusalem gehen und diese mächtige Gruppe auf seine Seite ziehen. Derweil lässt der Kardinal sich zum Apostolischen Vikar für die drei größten Nomadenstämme ernennen. Die Kirche dehnt damit ihren Einfluss erheblich aus und verdrängt die bisher an den Hebeln der Macht sitzenden Strohmänner der texarkanischen Regierung.
Damit droht der ";kalte” Krieg heiß zu werden. Die heimlichen Verbündeten des Papstes, die Nomaden, lassen sich nicht kontrollieren und verheeren die texarkanischen Grenzterritorien. Hannegan VII. macht den Exil-Papst dafür verantwortlich; er droht mit Vergeltungsschlägen und lässt Truppen aufmarschieren. Kardinal Braunpony und Schwarzzahn ziehen in die Hauptstadt des Reiches, um zu vermitteln, doch Hannegan lässt sie ins Gefängnis werfen. Da tritt Papst Amen zurück. Der texarkanische Diktator entlässt seine Gefangenen und macht sich daran, erneut einen eigenen Kandidaten auf den Papststuhl zu setzen. Der Konflikt weitet sich aus zum ";Heiligen Krieg";, der die Welt dieser Zukunft nach bekanntem Muster erneut und endgültig ins Chaos zurückschleudern könnte…
Die Zukunft als Chronik erlebter Geschichte
Eine Inhaltsangabe zum vorliegenden Roman zu verfassen stellt sich als höchst schwierige Aufgabe dar. Nicht seine Länge ist das Problem, sondern die unglaubliche Komplexität. Mit überbordender Detailfreude entwirft Walter M. Miller jr. sein postatomares Nordamerika. Er skizziert keine ";Mad Max”-Ödnis, in der nach dem großen Knall die Überlebenden einander stumpfsinnig durch sonnenverbrannte Steinwüsten jagen, sondern kreiert eine Welt mit eigenem historischen, politischen und gesellschaftlich-kulturellen Unterbau. Sein unerhörter inhaltlicher Reichtum macht die Bedeutung dieses Romans aus.
Ansonsten geschieht verhältnismäßig wenig. Wenn Miller seine Figuren reisen lässt, tut er das in erster Linie, um seinem Mosaik ein weiteres Steinchen einzufügen. Hat man sich erst einmal eingelesen und sich an Millers ganz eigenen Stil gewöhnt, bereitet es einen Heidenspaß zu verfolgen, wie versiert der Autor mit barocker Sprachgewalt Puzzlestein um Puzzlestein zu einem stimmigen und eindrucksvollen Panorama zusammensetzt. Er spart dabei nicht an ironischen, sarkastischen und auch zynischen Kommentaren, wie überhaupt sein Weltbild recht pessimistisch ist. Die Menschheit lernt nicht dazu, Geschichte wiederholt sich – im Guten, aber besonders im Bösen, so seine Sicht der Dinge. Nicht umsonst erinnert Millers Amerika an Europa zur Zeit des Dreißigjährigen Krieges, zersplittert in unzählige Königreiche, Fürstentümer, Grafschaften, Reichsstädte und Bistümer und zerrissen durch einen jahrzehntelangen Glaubensstreit.
In seiner Stärke liegt allerdings auch die einzige echte Schwäche des Buches. Miller übertreibt es mit seinen Abschweifungen, Anekdoten und Exkursen. Dann tritt die Handlung auf der Stelle, was deutlich macht, dass Miller – absichtlich oder notgedrungen – kein Meister darin war, eine Geschichte einem roten Faden folgen zu lassen. Schon der erste Leibowitz-Roman war ja eigentlich keiner, sondern eine (mehr oder weniger gelungene) Verknüpfung dreier Novellen. Auch ";Ein Hohelied auf Leibowitz” ist ein manchmal sperriger und gewiss nicht ";einfach” zu lesender Roman, der den Leser indes für seine Mühen reich belohnt. Dafür ist in der deutschen Fassung auch der Übersetzerin Isabella Bruckmann zu danken. Es muss eine Plackerei gewesen sein, Millers Anspielungen, die zitierten ";historischen” Quellen, die historischen, theologischen, juristischen (etc.) Fachtermini und die Wortspiele zu übertragen, ohne dass diese ihren Sinn verloren.
Eine schwere Geburt & der Tod des 'Vaters'
Mindestens interessant wie der vorliegende Roman ist seine Entstehungsgeschichte. Walter M. Miller jr. (1923-1995) verkörperte ein ganz besonderes Phänomen der Literatur-Szene – das ";One-Hit-Wonder”. 1959 debütierte er mit dem ";Post-Doomsday”-Roman ";A Canticle for Leibowitz"; (dt. ";";Lobgesang auf Leibowitz”, ebenfalls im Heyne-Verlag erschienen und mehrfach aufgelegt). Dieses Werk schlug ein wie die sprichwörtliche Bombe, fand allgemeine Anerkennung, wurde millionenfach verkauft und ist seit einem halben Jahrhundert niemals vergriffen. Kritiker und Leser warteten gespannt auf das nächste Buch ihres neuen Lieblingskindes, doch Miller, der vor seinem ";Lobgesang” 41 Novellen und Kurzgeschichten veröffentlicht hatte, zog sich als Autor völlig zurück – vier Jahrzehnte lang. Nach Aussagen der wenigen Personen, die ihn näher kannten, war er seit jeher ein schwieriger, unzugänglicher Mann, der mit dem plötzlichen Ruhm schwer zurecht kam und sich angesichts seines erfolgreichen Erstlings unter lähmenden Erwartungsdruck gesetzt sah. Miller begann mit Gott und der Welt zu hadern und brach schließlich sogar den Kontakt zur eigenen Familie weitgehend ab. Für seine Leser wurde er zu einer mystischen Gestalt – einem J. D. Salinger der Science Fiction. Daher war es eine Sensation, als Anfang der 1990er Jahre Gerüchte aufkamen, dass Miller an einer Fortsetzung seiner Leibowitz-Saga arbeite.
Tatsächlich versuchte Miller ein (hoch honoriertes) Comeback, doch obwohl er sich weiterhin der Außenwelt verweigerte, sickerte durch, dass er Schwierigkeiten hatte seine Geschichte zu erzählen. Jahr um Jahr musste ihr Erscheinen verschoben werden – die Geduld des Verlags ist ein Indiz für den Ruf, den der geheimnisumwitterter Autor trotz seines Schweigens genoss -, bis Miller zugab endgültig in eine Sackgasse geraten zu sein. Mit seiner Zustimmung wurde ein Schriftstellerkollege Terry Bisson hinzugezogen. Dieser hatte sich bisher mit durchaus originellen eigenen Werken in der SF-Szene nicht besonders hervorgetan; er schlug sich als Söldner der Feder mit Auftragsarbeiten durch und galt ansonsten als zuverlässiger und schneller Lieferant leicht lesbarer Gebrauchsliteratur. Sein Job als ";Script-Doktor” für Miller sollte tunlichst geheim bleiben, die unterschlagene Nennung als Co-Autor mit Geld aufgewogen werden. Das Schicksal wollte es, dass Bissons Wirken doch gewürdigt wurde: Noch bevor er die persönliche Zusammenarbeit mit Miller beginnen konnte, beging dieser im Dezember des Jahres 1995 Selbstmord. Miller litt im Alter unter schweren Depressionen, die zweifellos zu seinen Schreibblockaden beitrugen. Bisson überarbeitete das wider Erwarten weit fortgeschrittene Manuskript und gab ihm seinen Schluss: Nach vierzig Jahren und trotz seines Todes war Miller ein Comeback gelungen – eine Geschichte, wie sie in der Abtei St. Leibowitz nicht schöner hätte erzählt werden können. (Einen Einblick in Millers Leben und die verwickelte Entstehungsgeschichte seines zweiten und letzten Romans ermöglichen ein Vorwort von Carl Amery und ein ";Lobgesang auf Miller” von Terry Bisson, die der deutschen Ausgabe von 2000 dankenswerterweise beigefügt wurden.)
Walter M. Miller jr., Heyne
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