Unsterbliche Liebe, ewiger Hass, unendliche Langeweile
Edmund Maddox Barbarossa macht sich daran, die Chronik seiner Familie niederzuschreiben. Er hat viel zu erzählen, denn er ist beinahe 190 Jahre alt. Die Langlebigkeit liegt in der Familie, deren Herkunft mysteriös und womöglich göttlicher Natur ist; Genaues erfährt man allerdings (noch) nicht. Edmund lebt zusammen mit seiner Stiefmutter, seinen beiden Schwestern und seinem Bruder, die sämtlich noch seltsamer sind als er.
Während Edmund an seinen Aufzeichnungen arbeitet, stellt uns „Galileo“-Autor Clive Barker eine zweite Familie vor: die Gearys, deren Angehörige nicht mit besonderen Talenten gesegnet sind, dies aber durch Machtgier, Skrupellosigkeit und immensen Reichtum wettmachen. Mitchell, das gefühlskalte Oberhaupt der Sippe, heiratet die junge Schmuckverkäuferin Rachel Pallenberg. Erwartungsgemäß verläuft die Ehe unglücklich. Gut, dass die weiblichen Mitglieder der Geary-Familie diesbezüglichen Kummer gewohnt sind und über eine eigene Insel für vernachlässigte Ehefrauen in der Karibik verfügen. Um sie kümmert sich dort schon seit Generationen zuverlässig der romantische Seebär Galileo Barbarossa, der dazu mit seinem eigenen Segelschiff, der „Samarkand“, anreist.
Die Verbindungen zwischen den Gearys und den Barbarossas gehen über erotische Samariterdienste weit hinaus. Seit dem Amerikanischen Bürgerkrieg (1861-1865) sind die beiden Familien durch einen eigenartigen Pakt miteinander verbunden. Die Vorgeschichte reicht noch in viel frühere Zeiten zurück; sie wird vom Verfasser ungemein ausführlich aufgedröselt ...
Einen Schritt vor, einen halben zurück
Mit „Galileo“ betrat Clive Barker, bekannt für Horror der handfesten Art, kurz vor dem Millennium neues literarisches Terrain. In einer Mischung aus Historienroman und Liebesgeschichte widmet er sich der Geschichte zweier ungewöhnlicher Familien mit allen ihren (allzu) irdischen Elementen.
Allerdings traut sich Barker nicht so ganz, die blutbesprenkelten Weiden zu verlassen, die ihn bisher so zuverlässig ernährt haben. Vielleicht von seinem Verlag sanft bedrängt, lässt er das eine oder andere Gespenst durch das Geschehen spuken. Außerdem fallen die Mitglieder des Barbarossa-Clans durch ihre bemerkenswerte Langlebigkeit auf; wieso dies so ist, ist auch nach Lektüre von „Galileo“ nicht ganz klar. Anscheinend gibt es familiäre Bindungen zu mächtigen, aber längst in Vergessenheit geratenen archaischen Gottheiten, die - von den Menschen weitgehend unbemerkt - bis in die Gegenwart ihre vor Urzeiten begonnenen Ränken und Machtspiele treiben.
Leider verdirbt es sich Barker mit beiden Seiten. Seine alten Fans werfen ihm (nicht grundlos) vor, eine geschwätzige Seifenoper mit aufgesetzten übernatürlichen Effekten abzuliefern, während neue Barker-Leser sich fragen, wieso er nicht konsequent zu seinem Stoff stehen mag. In Interviews, in denen sich Barker zu seinem Werk äußerte, wurde zwischen den Zeilen jedenfalls eine gewisse Unsicherheit spürbar. Mit steigendem Alter erlebe er, Barker, einen gewissen Sinneswandel, was seine bisher so publikumswirksam (und profitabel) zur Schau gestellte Liebe zu Blut & Eingeweiden & Getümen aus den mehr oder weniger tiefen Gruben der Hölle beträfe; sein Interesse verlagere mehr auf das Leben im Hier und Jetzt.
Alles hat Konsequenzen
Das ist - außer für die beinharten Hardcore-Horror-Fans, deren Weltbild mit (Sarg-) Brettern vernagelt ist - durchaus nachvollziehbar. Allerdings bringt es Clive Barker als Schriftsteller erheblich aus dem Gleichgewicht. „Galileo“ ist ein aus den Fugen geratenes Projekt. Der erste Minuspunkt wurde bereits angesprochen: Barker mischt unharmonisch und schwer nachvollziehbar Reales mit Übernatürlichem. Er hatte schon mehrere Romane in einer Welt angesiedelt, die mit derjenigen, in der wir leben, nur zum Teil identisch ist. „Gyre“ („Weaveworld“, 1987), „Imagica“ („Imajica“, 1991) und eben „Galileo“ spielen auf einer parallelen Erde, die der unseren zwar sehr ähnelt, aber gleichzeitig über Tore in eine magisch-mythologische Überwelt verfügt.
Der leicht märchenhafte Unterton, der diese Romane auszeichnet, kann sehr reizvoll sein, aber eben auch sehr irritieren. „Galileo“ folgt einer eigenen Logik, auf die man sich einlassen muss denn sonst wird die Lektüre wirklich anstrengend. Leider kann Barkers schriftstellerischer Ehrgeiz mit seinem Talent nicht immer mithalten. Wie man das Weiterleben der Alten Götter in der Gegenwart wesentlich überzeugender gestaltet, hat schon 1943 Jean Ray (1882-1964), der belgische Klassiker der phantastischen Literatur, in seinem Meisterwerk „Malpertuis“ eindrucksvoll unter Beweis gestellt. Nur vier Jahre nach Barker stellte ihn Neil Gaiman mit „American Gods“ (2002) ebenfalls tief in den Schatten.
Erschreckend ist Barkers Mangel an Selbstdisziplin. Der Umfang von „Galileo“ ist beachtlich. Doch welche Idee trägt wirklich über fast tausend Seiten? „Galileo“ zählt jedenfalls nicht dazu. Stattdessen erzählt Barker gleich mehrere Geschichten, die nie richtig zusammenfinden wollen. Das weiß er - Profi, der er ist - natürlich auch, doch zieht er die Notbremse, ordnet und strafft die wild wuchernde Mär? Nein, das schafft er nicht.
Lang statt spannend
Stattdessen tritt Barker die Flucht nach vorn an: Das Unfertige von „Galileo“ sei durchaus gewollt, behauptet er; die lose geschürzten Knoten der Handlung werde er in einem zweiten Teil - der niemals erschienen ist - zu einem festen Netz schnüren. Sein Wort in des Lesers Ohr, doch das hilft wenig, wenn man sich durch „Galileo“ quält. Fakt ist, dass der ‚alte‘ Clive Barker, der wusste, wie man eine Geschichte erzählt, zu einem üblen Schwafler geworden ist, der Erzähltugenden weitgehend über Bord geworfen hat. Als Kurzgeschichtenautor die literarische Bühne betreten - und das mit einem Donnerschlag! Aber würde man hinter „Galileo“ jenen vor Ideen sprühenden, alle Grenzen ignorierenden bzw. neu definierenden Querkopf vermuten, dem wir die sechs „Bücher des Blutes“ verdanken?
In einzelnen Passagen blitzt Talent auch in „Galileo“ durchaus auf; die Bürgerkriegs-Sequenzen gehören dazu. Doch dazwischen ergeht sich Barker in endlosen, ermüdenden Andeutungen und nie eingelösten Versprechungen und bietet eine „X-Akte“ im King-Size-Format. Dazwischen versucht er sich an einer ‚normalen‘ Liebesgeschichte, die er - ganz lässt sich der alte Widerborst nicht unterdrücken - durch Sexszenen zu beleben versucht. Doch „Galileo“ sollte auch auf dem US-amerikanischen Markt Geld bringen, wo Menschen zwar oberhalb der Gürtellinie nach Belieben in Stücke geschossen, geschnitten oder gesprengt werden dürfen, während das, was sich darunter befindet, tabu ist. Zudem kann man sich bei der Lektüre besagter Szenen des Gedankens nicht erwehren, dass sie wesentlich feuriger ausgefallen wären, hätte Barker die Liebhaberrolle einer verwesenden Leiche zugewiesen.
Die Leser des angelsächsischen Originals waren übrigens gewarnt: „Galileo - eine Romanze“ lautet dort der vollständige Titel. Wer hätte damit gerechnet, dass dies kein sardonischer Witz ist, sondern die Wahrheit? In Deutschland wollte man den Kurswechsel vorsichtshalber nicht nachvollziehen. „Galileo“ wurde den Lesern als „der neue Roman des Horrorautors Clive Barker“ angedient. Auf diese Weise konnte es schwerlich gelingen, das deutsche Publikum für einen ‚anderen‘ Barker zu gewinnen, der sich - anders als beispielsweise Stephen King - auch außerhalb des Horrors nicht als begnadeter Geschichtenerzähler entpuppt.
Fazit:
Clive Barker verzichtet auf harten Horror und erzählt stattdessen eine (leicht fantasylastige) Romanze, die vor allem durch ihre Länge in Erinnerung bleibt, während die Handlung ereignis- und spannungsarm vorüberplätschert: Lektüre für hartgesottene Romantiker.
Clive Barker, Heyne
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