Menschen, die wahren Monster
Boone ist ein psychisch schwer kranker Mann, ein Serienmörder, der in geistiger Umnachtung ein Dutzend Menschen dahingeschlachtet haben soll. Das eröffnet ihm jedenfalls Dr. Decker, sein Langzeit-Seelenklempner. Der feinsinnige Therapeut knallt seinem Patienten auch gleich die Beweise für dessen Bluttaten vor die Nase: ungeschönte Schnappschüsse der zerfleischten Opfer. Anfänglich wehrt sich Boone gegen den Tatbestand, diese Massaker begangen zu haben, denn er besitzt keine Erinnerung daran. Aber letztlich flüchtet er sich in die stumpfe Akzeptanz, ein Monster zu sein und gerät in eine tiefe Depression. Selbst seiner Freundin Lori gelingt es nicht, ihn zu erreichen. Denn Boones Entschluss steht da bereits fest: Er wird seinem monströsen Dasein ein Ende bereiten. Sein Selbstmord bleibt allerdings ein Versuch. Nachdem ihm der Kühlergrill eines Lastwagens lediglich ein paar Prellungen und einige kosmetische Korrekturen beigebracht hat, kommt er in einer Klinik wieder zu sich.
Boones Bettnachbar, ein seltsamer Herumtreiber namens Narcisse, erzählt Boone von dem Ort Midian, wo düstere Gemüter anscheinend ihre wahre Heimat fänden. In einem Moment des Aufruhrs, als die Pfleger sich auf den ebenfalls suizidgefährdeten Narcisse stürzen, nutzt Boone die Gunst der Sekunde und flieht aus der Anstalt. Spätestens jetzt ist dem Leser klar geworden, dass Boone keineswegs geistesgestört ist. Höchstens ein unverbesserlicher Melancholiker, der nicht so recht in die Welt der menschlichen Masken und Fassaden passen will. Das wahre Monster steckt derweil in der Hülle des Psychiaters. Als Mann von Einfluss und tadellosem Ruf hetzt Dr. Decker Boone die Polizei auf den Hals und nimmt auch gleich selber die Spur seines Patienten auf. Was Decker als selbstlose Aufopferung für seinen Patienten beschreibt, dient nur dem Zweck, Boone für jene Untaten verantwortlich zu machen, die in Wahrheit der irre Psychiater selber begangen hat. Bloss aus Spass, wie dieser mehrfach bezeugt. Es gilt daher, Boone unschädlich zu machen und diesem die Morde in die Schuhe zu schieben, während sich der unzimperliche Doktor als Held feiern lassen würde.
Doch Boone kennt indessen nur ein Ziel: Midian zu erreichen, das ihm die Erlösung von allen irdischen Qualen verspricht. Der Leser erahnt an dieser Stelle schon irgendein phantastisches Albtraumreich, in das der Protagonist hineinstolpert. Doch Midian erweist sich dann als überraschend reale Geisterstadt, als ein verlassenes Goldgräbernest irgendwo in der kanadischen Provinz Alberta. Und doch sind die Gräber und Grüfte des lokalen Friedhofs nichts anderes als die Heimat der "Nachtbrut". Eine seltene Spezies zwischen Zombies und Gestaltwandlern, die dort im Untergrund haust. Und Boones brennendstes Verlangen ist es, eins von Midians Geschöpfen zu werden. Ein Wunsch, der nur allzu bald erhört wird. In einem vorzeitigen Entscheidungskampf wird Boone von Dr. Decker gestellt, der ihm ein paar Kugeln durch den Körper jagt. Aber Boone ist nicht tot. Als lebender Toter steht er erst am Anfang des Kampfes gegen die Bestie Decker und die menschliche Ignoranz, vor der gerade auch ländliche Provinznester nicht verschont bleiben.
Horror jenseits der Genre-Regeln
"Cabal" erschien 1988 unter dem Originaltitel "Cabal - The Nightbreed" und ist Barkers vierter Roman, nachdem die "Bücher des Blutes" ihren Autor Mitte der Achtziger Knall auf Fall in den Horror-Olymp katapultiert hatten. Zwanzig Jahre später merkt man dem Roman an, dass sich gewisse Schockeffekte (fleissig beansprucht von zig Nachahmern) etwas abgenutzt haben. Allerdings sind Blut und Splatter bei Barker nicht bloss Mittel, um Grauen zu erzeugen. Es geht ihm in Cabal eher um die mythisch-dunkle Dimension der Geschichte, wie es meines Erachtens auch bei anderen Romanen Barkers der Fall ist. Der Horror steht bis zur Hälfte der Geschichte kaum im Vordergrund. Wir bekommen ihn eher indirekt, durch die Fotografien und durch die Ausleuchtung von Boones Psyche vermittelt. Und bald wird einem klar, dass das wahre Monster der Mensch ist und nicht etwa die verteufelten Kreaturen Midians, die sich eigentlich schuldlos im Untergrund eines Friedhofs eine Existenz aufgebaut haben. Barker steigert gekonnt die Dramatik seiner Geschichte, so dass seine Fans letztlich ganz auf ihre Kosten kommen, was blutige Szenen, fantastische Monster und schlüpfrige Erotik angeht. Allerdings ist der Roman auch so etwas wie eine Liebesgeschichte, denn er lebt nicht zuletzt von dem gegensätzlichen Paar Boone/Lori, das selbst alle Gewalt des Bösen nicht zu trennen vermag.
Die Geschichte schwankt allerdings manchmal zwischen Kunst und Kitsch. Immer wieder stolpert man über kleine Unmöglichkeiten und Makel in der Figurenzeichnung, während gewisse Szenen (beispielsweise die, worin Boone nach Midian gelangt) einfach gelungen sind. Die Dialoge sind ziemlich fäkalien-fokussiert geraten, zwischendurch gibt es aber immer wieder lyrische Sätze und Metaphern zu bewundern, wie sie nur Barker schreiben kann. Auch liegen echter Ekel und Hauruck-Horror oft nicht weit auseinander. Das führt manchmal zu Irritationen. Etwa lassen einen die Gräueltaten Deckers fast unberührt, obwohl da ziemlich viel Blut vergossen wird. Weiter verklärt Barker in Cabal für meinen Geschmack ein bisschen zu sehr die Seite der "dunklen Romantik". Das wäre gar nicht nötig gewesen, denn der Kontrast zwischen der Nachtbrut (den guten Monstern) und so negativ gezeichneten Buhmännern wie Decker oder dem Polizisten Eigerman (ein eigennütziger Emporkömmling, der in der Zerstörung Midians die einmalige Chance seiner Karriere sieht) ist schon gross genug. Und auch das noch: Die Nachtbrut verträgt kein Tageslicht! Das erinnerte mich dann doch sehr an Vampirfilm-Dutzendware, wo stets mit Kruzifixen und Weihwasser gegen das Unheilige vorgegangen wird. Und der Bösewicht Decker trägt zur Krönung des Komischen eine neckische Maske mit Knopfaugen und Reissverschlussmund, was zwar seine Ich-Spaltung schön illustriert, aber für meinen Geschmack etwas zu dick aufgetragen ist. Solch schäbige Tricks hat ein Autor wie Barker nicht nötig, er hätte sich ein gutes Beispiel an "American Psycho" nehmen können, aber der kam ja erst zwei Jahre später heraus. Dennoch ist Cabal alles andere als ein gewöhnlicher Horror-Roman. Es ist eine düster-blutige Fantasie über unsere Welt der Fassaden und Masken. Und Barker zeigt uns auf, dass er stets Pfade beschreitet, die selbst nach zwanzig Jahren noch ein erfrischend anderes Horrorvergnügen garantieren.
Clive Barker, -
Deine Meinung zu »Cabal«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!