Die Farben der Zeit

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 2001
  • 0
Die Farben der Zeit
Die Farben der Zeit
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Frank Weinreich
95°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2007

Zeitparadoxa - wundervoll aufgelöst

Die Rezension bezieht sich auf die englische Originalausgabe "To say Nothing of the Dog"

Was könnte eigentlich alles passieren, wenn die Möglichkeit bestünde, in den Ablauf der Geschichte einzugreifen? Das ist ein altes, aber immer wieder herausforderndes Thema in der Science Fiction. Connie Willis hat mit ";To Say Nothing of the Dog"; eine wunderbare, hochintelligente und ungemein spannende Version dieser Idee vorgelegt, die das alte Thema in völlig neue Gewänder kleidet und dabei auf einen Schlag Chaostheorie, das Viktorianische Zeitalter, die angelsächsische Literaturgeschichte wie die Geschichtswissenschaft allgemein und Murder Mysteries mit einbezieht, so dass einem fast schwindlig wird. Aber egal - diese Karusselfahrt ist das reinste Vergnügen!

Der Inhalt: Im frühen 21. Jahrhundert wurde das Zeitreisen erfunden. Das ist glücklicherweise weniger gefährlich als man meinen sollte, denn alle Versuche, die wichtigen Ereignisse der Geschichte zu ändern und etwa Cäsars oder Lincolns Ermordung zu verhindern oder stattdessen George Washington zu töten oder Napoleon Waterloo gewinnen zu lassen, scheitern, da das Zeitkontinuum sich irgednwie schützt und der Zugriff auf wichtige geschichtliche Ereignisse verhindert wird. Aber was ist mit anderen, mit kleinen Ereignissen, schließlich hängt alles mit allem zusammen? Das ist der Ausgangspunkt der Geschichte.

Das Zeitreisen (es geht nur in die Vergangenheit) wird nur noch für die Forschung benutzt, jegliche Eingriffe sind verboten. Bis eine junge Historikerin, Verity, im Viktorianischen England des Jahrs 1888 eintrifft und ein Kätzchen ertrinken sieht. Sie rettet es und bringt es in ihre Gegenwart des Jahres 2057 - und was kann daran schon falsch sein? Leider ist es aber so, dass ihr Chef das anders sieht und das Kätzchen mit einem anderen Historiker, dem Ich-Erzähler des Romans Ned, sofort wieder zurückschickt. Und damit beginnt ein potenziell fataler Ablauf der Ereignisse.

Ned trifft auf einen jungen Mann, Terence, und lässt sich von ihm zu dem Ort begleiten, an dem das Kätzchen abzuliefern ist. Dadurch trifft Terence auf die Besitzerin der Katze, Tocelyn, die sich in ihn verliebt und sich kurzerhand mit ihm verlobt. Leider ist aber aus Geschichts- und Tagebüchern bekannt, dass Tocelyn einen ganz anderen Mann geheiratet hat und Großmutter eines Mannes wurde, der einen ungemein wichtigen Bombereinsatz im Zweiten Weltkrieg flog. Kommt es nicht zu diesem Einsatz, drohen die Nazis den Krieg zu gewinnen und Berechnungen zeigen, dass diese Zeitinkongruität möglicherweise das Raum-Zeit-Kontinuum zerstört ... ganz zu schweigen von dem Hund!

";To Say Nothing of the Dog"; berichtet nun auf das Köstlichste die Geschichte, wie Ned und Verity versuchen, Tocelyn noch zum 'richtigen' Mann zu verhelfen. Dabei merken Sie allerdings schnell, dass noch weitere Ereignisse in den Jahren 1940 und 2018 intervenieren, die auch nicht dem normalen aus den Geschichtsbüchern entsprechenden Zeitablauf entsprechen. Irgendjemand oder vielleicht das Schicksal selbst versucht, ebenfalls an der Geschichte zu drehen. Und was ist überhaupt Geschichte und wie entsteht sie? Die leidenschaftlichen Schimpfkanonaden, mit denen der Geschichtsprofessor Peddick dies erklärt, sind ein Highlight eigener Güte! Aber Willis löst alle Handlungsfäden und Ideen in einem überraschenden, jedoch völlig logischen Finale auf.

Bis dahin hat der Leser seinen Spaß an den wirklich merkwürdigen Besonderheiten des Viktorianischen England, an theoretischen Ausflügen in die Chaos- und Zeittheorie, an unzähligen Anspielungen auf die ganze Bandbreite der englischsprachigen Literatur von Shakespeare über ";Der Wind in den Weiden";, bekannte und obskure Dichter des 19. Jahrhunderts bis hin zu den Denkaufgaben der klassischen Murder Mysteries von Dorothy Sayers oder Agatha Christie.

Was den Leser dabei vielleicht irritiert, ist das völlige Fehlen jeglicher Action. Die Protagonisten reden miteinander oder denken nach (oder fahren auf der Themse spazieren, aber wir wissen ja von Kenneth Grahame, dass es nichts Schöneres gibt als ";messing about in boats";), sonst passiert so gut wie nichts. Das muss man wissen, um von dem in dieser wie manch anderer Hinsicht untypischen SF-Buch nicht enttäuscht zu sein. Selbst die Krimianspielungen und der Gebrauch typischer Hercule Poirot-Szenen drehen sich nicht um echte Verbrechen, sondern um die Bemühungen, aufzudecken, was für mysteriöse Einflüsse auf den Zeitablauf einwirken. Aber es gibt auch keine Slapstick- oder Comedyeinspielungen. Die Handlung, insbesondere die des Jahres 1888, ist zwar von ständig vorhandenem feinsinnigen Humor bestimmt, aber sie bewirkt Lächeln, nicht Lachen.

In diesem Zusammenhang findet sich auch die einzige Schwäche des Romans, die mich hindert, volle 100 Punkte zu vergeben: Willis ist streckenweise zu langatmig. Gut zwei Drittel des Romanes spielen an drei Tagen des Jahres 1888 und dabei ergibt sich manch überflüssige Länge. Die Intention der Autorin besteht zwar in erster Linie darin, zu zeigen, wie komplex geschichtliche Abläufe sind, aber das begriffe man auch noch, wenn ein paar Handlungsschlenker weniger beschrieben würden und wenn das eine oder andere redundante Gespräch ausbliebe. Da die meisten Längen auch noch recht unglücklich am Übergang des ersten ins zweite Drittel des Buches platziert sind, wenn man noch 300 Seiten vor sich sieht, besteht die Gefahr, dass Willis da den einen oder die andere Leserin unterwegs verliert.

Doch das wird selten vorkommen, da ist schon die brillante und qualitativ nie nachlassende Erzählweise vor, die erneut beweist, warum Willis die Autorin ist, die den Nebula Award häufiger als jeder andere Science Fiction-Autor bekommen hat. Da stimmt die Sprache in jedem der besuchten Zeitalter, da überzeugt auch noch der kleinste Charakter mit seiner Glaubwürdigkeit und man wird zu jedem Zeitpunkt, auch bei den Redundanzen, durch die intelligenten Wortspiele und besonders die Anspielungen an literarische Vorlagen unterhalten. Denn neben einem Zeitreiseroman ist ";To Say Nothing of the Dog"; auch eine Reise durch die angelsächsische Literatur.

Und eben nicht nur durch die hehren Gefilde der E-Literatur, sondern gerne auch in die Niederungen wirklich schlechter Poesie und in die Niederungen vermeintlich unwichtiger Bücher wie der humoristischen Literatur, der Kinderbücher und der Krimis. So stellt Jerome K. Jeromes ";Three Men in a Boat"; nicht nur den Titel, sondern auch einen Handlungsleitfaden dar und was ist eine Zeitreisegeschichte auch anderes als eine Fahrt auf dem (Zeit-)Fluss? Ganz wunderbar wird die Welt von Kenneth Grahames ";The Wind in the Willows"; mit den Erlebnissen Neds und Terrys auf der Themse verwoben. Und der aufmerksame Leser wird die Auflösung nur vorausahnen können, wenn er sich der detektivischen Mittel von Christies Poirot und Sayers´ Lord Peter Wimsey bedient.

Ein absoluter Glücksfall, hoffentlich nicht so abseitig des handlungsorientierten Mainstreams geschrieben, dass es die unbedingt gebührende Aufmerksamkeit verfehlt.

Die Farben der Zeit

Connie Willis, Heyne

Die Farben der Zeit

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