Der gute Ruf
Cory Doctorow gehört gemeinsam mit Charles Stross zu einer Generation von Autoren, die die Singularität in ihren Romanen als gegeben hinnehmen. Sie verwenden dieses Konzept, um auf höchst unterhaltsame Weise den steten technologischen Fortschritt zu extrapolieren und sehen sich dann, was er mit unserer Gesellschaft anstellt.
Und so sind lebensverlängernde Maßnahmen, Biotechnologie und digitale Gedankenspeicherung in Doctorows 22. Jahrhundert die Fundamente der Gesellschaft. Niemand muss mehr verhungern, es gibt kein Geld mehr, jeder kann bequem leben. Doch was ist der Preis für diesen paradiesischen Zustand? Neid. Wer wirklich reich ist, der lebt von seinem guten Ruf wie ein Krösus - die Währung der eigenen Reputation heißt ";Woppel”. Tu nur, was dir Ego-Punkte einbringt und verärgere deine Umwelt nicht. Das ist das Credo der Bitchun-Society, die den Erdball administriert.
In dieser Quasi-Diktatur des Ansehens arbeitet Jules in Disney-World, das heißt, im ehemaligen Disney-World, denn der Unterhaltungskonzern existiert nicht mehr. Der Vergnügungspark wird nun betrieben von den ";Ah-hoc-kraten”, die die einzelnen Attraktionen und Fahrgeschäfte am laufen halten und behutsam weiterentwickeln. Denn: Je mehr Besucher Spaß haben, desto mehr ";Woppel” gibt es, um mehr als ein Basis-Leben zu führen.
Das Spukhaus, für das Jules’ Gruppe arbeitet, bekommt arge Konkurrenz von den neuen Betreibern der Halle der Präsidenten. Diese wollen unter der Führung von Debra alles digitalisieren, damit die Besucher das Gefühl bekommen, Abraham Lincoln oder George Washington zu sein. Das Woppelkonto der Gruppe schwillt exorbitant an, als das Konzept aufgeht. Doch Jules ist die Sache nicht geheuer, der Wandel vom mechanischen zum virtuellen Spaß geht ihm zu weit. Als er eines Tages im Krankenhaus aufwacht und sich an nichts erinnern kann, sagt ihm der Arzt, er sei ermordet und ein Backup seiner Erinnerungen in einen geklonten Körper geladen worden.
Jetzt geht Jules durch die Decke, denn er glaubt felsenfest, dass Debra ihn umgebracht hat. Doch seine Freunde sind zurückhaltend, und je mehr er gegen die neue Präsidenthalle wettert, desto weniger Besucher kommen ins Spukhaus desto größer wird das Minus auf seinem Woppel-Konto.
Prickelnde Ideen
Es muss ein Paradies für Public-Relations-Agenturen sein: Das 22. Jahrhundert, wie es Cory Doctorow uns in seinem ersten auf Deutsch übersetzten Roman präsentiert. Genau wie der eingangs erwähnte Schotte Stross kann der Kanadier Doctorow seine Ideen in Geschichten verpacken, die den Leser fesseln, die er nachvollziehen kann. Ein Transportmittel, das auch in der Kommunikationswelt zum Geschäft gehört, um eben Reputationen zwecks Wertsteigerung aufzubauen.
Und was uns Doctorow in ";Backup” vorführt, ist schon Realität, zumindest in Teilen des Internet, das den Regeln des Web 2.0 gehorcht. Plattformen wie Yigg.de oder Digg.com arbeiten bereits nach dem Prinzip der Punkteverteilung für User Generated Content. Bei all der Verliebtheit in solche technologischen Konzepte erzählt uns Doctorow aber auch eine spannende Geschichte, eigentlich sogar einen Krimi mit tragischem Held. Viele prickelnde Ideen und gut ausgeformte Charaktere auf knapp 300 Seiten, das ist in dieser Kombination eine Seltenheit für aktuelle Science Fiction.
Cory Doctorow, Heyne
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