Kometen, Könige und fragwürdige Poesie
Stephen Baxters eigenwillige Geschichtsstunde geht in die zweite Runde. Das römische Imperium ist gefallen. Germanen, Angeln, Sachsen und Wikinger betreten nun die historische Bühne. Der geheimnisvolle Weber des Zeitteppichs setzt seine Arbeit fort und manipuliert Zeit und Geschichte. ";Eroberer"; ist die kolossale und grandiose Fortsetzung eines sich anbahnenden literarischen Meisterwerks.
Wir schreiben das Jahr 607 n. Chr. Seit dem Untergang Roms wird Britannien von Germanen überrannt. Römische Briten, Germanen und Iren bevölkern nun die Insel. Die einzig gemeinsame Sprache ist Latein. Neben einigen Befestigungen wie Wehrbauten, Römerstädten und wenigen gut erhaltenen Straßen ist die lateinische Sprache jedoch nur noch ein Relikt des römischen Imperiums. Seit der britannischen Revolution 409 n. Chr. gibt es nur noch wenige Träumer, die an eine Wiederauferstehung des Imperiums glauben. Die Angeln sind längst über Britannien eingefallen, besetzen zunächst den Norden um sich anschließend immer weiter auszubreiten. Ein neues, anglisches Königreich entsteht.
In diesen wirren Zeiten kreuzen sich die Wege zweier völlig unterschiedlicher junger Männer. Wuffa, ein sächsischer Krieger, und Ulf, der Normanne. Sie werden zu Waffenbrüdern, als sie von der Prophezeiung der seligen Isolde erfahren - einer Römerin, die vor mehr als zweihundert Jahren auf dem Entbindungsbett diese Prophezeiung in einer ihr völlig fremden Sprache ausgesprochen hat. Das Menologium der seligen Isolde. Verwirrende Verse in mehrere Strophen verfasst. Eine grobe Karte der Zukunft, deren Fäden von der verlorenen Vergangenheit bis in die Zukunft reichen. Angeblich besteht der Zweck des Menologiums darin, das Kommen des arischen Reichs der Zukunft sicherzustellen. Die Christen sind davon überzeugt, dass es sich dabei um die Worte Gottes handelt. Andere wiederum halten es nur für heidnisches Gewäsch.
Wuffa und Ulf reisen nach Norden zum Hadrianswall. Dort treffen sie auf Ambrosius, den ";letzten Römer";. Dieser hütet die Überlieferung der seligen Isolde schon seit langer Zeit. Er selbst ist einer der Nachfahren Isoldes. Ambrosius berichtet auch von einem Kometen, dem haarigen Stern, der als Vorbote die Deutungen des Menologiums einläutet. Als Wuffa und Ulf ihren Blick gen Himmel richten und tatsächlich einen Kometen erblicken, ist es zugleich auch für beide Männer ein Zeichen, dass sich ihr beider Leben von diesem Tag an von Grund auf ändern wird. Nun werden sie zu den Hütern des Menologiums, sind dazu bestimmt, die geheimnisvollen Verse zu bewahren.
Fast 200 Jahre später, als der Angriff der Wikinger auf Britannien beginnt, gelangen die Nordmänner in den Besitz der Überlieferung. Zuvor wurde diese von den Gelehrten eines Klosters sorgsam niedergeschrieben. Neu abgefasst in germanischer Sprache, meisterhaft transkribiert und mit einfachen Zeichnungen illuminiert. Die Wikinger selbst sind sich der Bedeutung des Menologiums nicht bewusst. Sie halten das Ganze für eine Art von heidnischem Schutzzauber. Nachdem die Wikinger gebrandschatzt, gemordet, vergewaltigt und geplündert haben, bestätigt sich damit eine weitere Strophe des Menologiums.
85 Jahre später erheben sich König Alfred von England und seine Getreuen gegen die Dänen, und die Schlachtfelder erleuchten in hellen Schein. Diesmal aber scheint die Prophezeiung sich nicht zu bestätigen. Etwas passt nicht in das Muster. Liegt Englands Schicksal nun in den Händen König Alfreds oder wurde die Geschichte schon längst geschrieben und sind alle Beteiligten nur Geister; in der Vergangenheit fest eingebettete Figuren? Der Weber des Zeitteppichs setzt seine Arbeit fort. Manipuliert er tatsächlich die Geschichte oder ist es nur der verzweifelte Versuch, alles wieder ins Lot zu bringen?
Kingdom Rise, Kingdom Fall
Hat man den ersten Band des Zyklus rezensiert, läuft man nun unweigerlich Gefahr, sich in viele Dingen selbst zu kopieren. Geschichte wiederholt sich. Thema und Schauplätze bleiben erhalten. Lediglich Zeit und Personen ändern sich. Das verwirrende Spiel um die Manipulationen der Zeit geht weiter. ";Imperator";, der erste Band des Zyklus, präsentierte dem Leser 400 Jahre römische Geschichte in stark komprimierter Form und war gänzlich dem Aufstieg und Fall des Imperiums gewidmet. Ein Crashkurs in römischer Geschichte auf knapp 600 Seiten. Bedingt durch die ein oder andere Ungereimtheit und einigen Löchern in der Logik blieb am Ende ein etwas zwiespältiger Eindruck zurück. Der Funke wollte nicht so recht überspringen. Das Experiment, glaubwürdige Mischung aus historischem Roman und Science-Fiction, schien zunächst gescheitert.
Wie auch immer. Rom ist Geschichte. Die heidnischen Barbaren kommen nun zum Zuge. Germanen, Angeln, Sachsen, Wikinger und Normannen betreten die historische Bühne. In ";Eroberer"; bekommt der Leser nun 657 Jahre Geschichte serviert. Das alles auf ca. 550 Seiten. Leichte Kost ist das nicht, wie man sich unschwer denken kann. Der Roman gliedert sich dabei in vier Teile, wobei die geschichtlichen Ereignisse Britanniens zwischen 607 n. Chr. und 1066 n. Chr. geschildert werden. In Teilen historisch korrekt, dann spekulativ bis hin zur reinen Fiction. Wunderbar ineinander verwoben und glaubwürdig erzählt. Entgegen dem ersten Band ";Imperator"; ist ";Eroberer"; somit um Längen besser. Was nicht etwa heißen soll, die römische Geschichte wäre uninteressant. Das Gegenteil ist sicher der Fall. Nur ist ";Eroberer"; für mein Empfinden abwechslungsreicher und logischer aufgebaut. Das trifft auch auf die vielen unterschiedlichen Protagonisten zu, deren flüchtiges Auftreten einen etwas bleibenderen Eindruck hinterlässt, als es noch bei ";Imperator"; der Fall gewesen war.
Ansonsten gibt es jedoch nichts wirklich Neues. Komprimierte Geschichte, Protagonisten die kommen und gehen und das Warten auf Antworten. Die Prophezeiung gibt weiterhin Rätsel auf und lässt mehr Raum für Spekulationen zur geschichtlichen Entwicklung, als es dem Leser lieb sein könnte. Theologische Sophisterei, wissenschaftliches Werk oder am Ende nicht mehr als Vorzeichendeutung durch Beschau von Eingeweiden? Die Frage ";Was wäre wenn…"; steht dabei immer im Vordergrund. Oder existiert die Zukunft vielleicht überhaupt nicht? Geht sie nur kontinuierlich aus der Gegenwart hervor? Da rotiert einem schnell das Hirn wenn man erst einmal ins Grübeln kommt. Ein typischer Stephen Baxter-Effekt. Wer zum Beispiel seinen Roman ";Zeitschiffe"; gelesen hat, der weiß sicher was gemeint ist.
Was den Verfasser des geheimnisumwobenen Menologiums betrifft, so lässt der Autor seine Leser auch weiterhin im Unklaren. Das angekündigte Kommen des arischen Reichs in der Zukunft lässt jedoch nichts Gutes vermuten. Germanen und Nordmänner, Menschen mit der angeblich besseren Erbmasse und dem reineren Blut. Da kann einem Angst und Bange werden. Ideologischer Stoff für kranke Hirne. Manch ein Fanatiker, dessen geistiges Potenzial zu wünschen übrig lässt, könnte Baxters Roman durchaus als Bestätigung seiner wirren Thesen sehen. Aber lassen wir das.
Wer weiß, vielleicht steht aber am Ende des Zyklus der ominöse ";Weber des Zeitteppichs"; auch nur für eine Metapher. Eine Metapher für eine höhere oder gar künstliche Intelligenz in der fernen Zukunft. Eine Intelligenz, die bewusst die Zeit manipuliert. Zu banal? Mag schon sein, alles reine Spekulation. Würde jedoch diese Vermutung in etwa zutreffen, dann wäre damit auch der Science Fiction Genüge getan. Denn nach dieser sucht man noch immer vergebens. Wie schon ";Imperator"; lässt sich auch ";Eroberer"; eher als ein historisches Abenteuer mit Fantasy-Elementen beschreiben. Wie auch immer, geplant sind angeblich vier Bände. Der Leser wird sich also noch eine Weile gedulden müssen bis alle Antworten auf dem Tisch liegen.
Hauen und Stechen - Schildwall gegen Schildwall
Zu den absoluten Höhepunkten zählen zweifellos der dritte Teil des Romans und die darin geschilderte Schlacht um Ethandone (Edington) 878 n. Chr. Ein letztes verzweifeltes Aufbäumen gegen die verhassten Barbaren aus dem Norden. Der Anfang vom Ende der dänischen Besatzungsmacht. Dann wenn Alfred, König der Engländer, mit seinen Mannen gegen die Dänen in die alles entscheidende Schlacht zieht, kommt Baxters unglaubliche erzählerische Kraft erst wirklich zur Geltung. Was folgt, ist ein Schlachtengemälde, so filmreif in Szene gesetzt, dass der Leser sich einer grauenvollen Faszination kaum noch entziehen kann. Baxters detaillierte Beschreibungen gehen unter die Haut. Für zarte Gemüter ist das sicher nichts. Junges Leben vergeht in einem kurzen Aufblitzen von Eisen. Schwere Äxte und gewaltige Schwerter zerschneiden und zerhacken atmende Männer zu leblosem Brei. Glieder werden abgetrennt, Rümpfe aufgeschlitzt. Ein Universum des Tötens beherrscht von einem kollektiven Wahnsinn. Begeisterung und Freude am Töten. Dem Kampffieber verfallen. Daneben verblasst so ziemlich jeder Splatter-Horror-Roman. Schon im ersten Band ";Imperator";, wenn die römischen Legionen aufmarschierten und der Leser die Truppen auf ihren imposanten Eroberungsfeldzügen begleiten durfte, zählte dies zu den Höhepunkten des Romans. Ein Stephen Baxter, der einsame und neutrale Beobachter auf dem Hügel, der diese Scharmützel verfolgt und chronologisiert? Zu diesem Schluss könnte der Leser gelangen, wenn er nach einer Schlacht erleichtert aufatmet und sich vor dem Weiterlesen eine kurze Ruhepause gönnt.
Eklige Mönche - Stolze Krieger
Mit dem Christentum und dessen Vertretern geht Baxter hart ins Gericht. Das dürfte bei so manchen auf Unmut stoßen. Abseits jeder Realität ist das aber sicher nicht. Ganz schön zynisch ist da dann auch so manche Aussage. Dass es in den Dörfern rund um die Kloster von Bastarden nur so wimmelt, ist Baxters Meinung nach ein Zeichen für die unaufhaltsame Ausbreitung des Christentums. Starker Tobak. Baxters Mönche sind dann auch größtenteils unangenehme Zeitgenossen. Fett, hässlich, schwitzend und pervers, schänden sie junge Sklavinnen, Knaben und machen sogar vor ihren Novizen nicht halt. Wenn sie dann anschließend das Wort Gottes verkünden, ist das so richtig abstoßend und ekelhaft. Ein Hosianna möchte man da nicht anstimmen. Wenn dann die Axt eines hochgewachsenen Wikingers den Schädel eines Mönchs spaltet, der sich gerade an einer jungen Frau vergangen hat, ist man fast gewillt, dem Nordmann seine Sympathien kundzutun. Doch zum Glück sind nicht alle irdischen ";Vertreter"; Gottes in Baxters Roman so gruselig. Es gibt auch die Gelehrten, denen das Wohl des Volkes am Herzen liegt und die weit über die Grenzen ihres Klosters hinaussehen.
Die Grausamkeiten, die die Wikinger bei ihren Raubzügen wiederum an den Tag legen, rauben einem schier den Atem. Darüber hinaus schmerzt es in der Seele, wenn die Nordmänner alte, unersetzliche Bücher und Schriftrollen den Flammen übergeben. Das Ende der Arbeit von Jahrhunderten. Zerbrechliche Produkte der Zivilisation, aufgelöst in schwarzen Rauch und dunkler Ignoranz. Da tröstet ein naturwissenschaftliches Gesetz nur wenig, das besagt, nichts geht in der Natur verloren, alles kann nur umgewandelt werden. Eine zerbrechliche Zivilisation als solches, lädiert vom Heidentum, Unwissenheit und Pestilenz. Eine fragile und anachronistische Politik. Wenn der Autor jedoch ";seine Wikinger"; auf die offene See hinaus fahren lässt, das Segel mit den hellen Karos sich aufbläht und die Wellen sich am Bug der Drachenboote brechen, dann ist das wiederum sehr beeindruckend und man kann fast den salzigen Geschmack in der Luft schmecken. In solchen Momenten wird dem Leser bewusst, was für ein brillanter und begnadeter Autor Stephen Baxter ist.
Wie schon erwähnt, sind alle Figuren des Romans flüchtiger Natur. Daher ist eine Identifikation mit ihnen kaum möglich. König Alfred zählt für mich daher noch zu den eindrucksvollsten Protagonisten. Ein Mann mit großer Weitsicht, belesen und visionär. Sein Traum ist es, ein Königreich zu gründen, das auf Christus und die Schriftkultur aufbaut. Sieht er doch im Christentum die Wurzel aller Moral. Ungebildete Barbaren sind Alfred ein Gräuel, auch in den eigenen Reihen. 886 n. Chr. gelingt es ihm sogar, London von den Dänen zurückzuerobern. Aber auch nach seinem ruhmreichen Sieg gegen die Nordmänner sollte das donnernde Krachen der aufeinanderprallenden Schildwälle noch Jahrhunderte über englische Schlachtfelder hallen. Nebenbei, den Prolog sollte man sehr aufmerksam lesen und sich auch am besten vor dem Epilog ein zweites mal zu Gemüte führen. Warum? Das soll an dieser Stelle nicht verraten werden.
Abschließend sei noch erwähnt, dass eine Zeittafel, eine Auflistung der Ortsnamen, die freie Übersetzung des Menologiums aus dem Altenglischen und eine Übersichtskarte des englischen Königreichs das kleine Meisterwerk abrunden.
Fazit
Hundert Seiten weniger hätten dem Roman sicher gut getan. Irgendwann wiederholt sich dann doch alles und man wird der vielen Schlachten und Gemetzel leicht überdrüssig. Manchmal ist etwas weniger eben doch mehr. Dennoch, es fängt an Spaß zu machen, Stephen Baxters unkonventionellen geschichtlichen Exkurs mitzuerleben. Dazu muss man nicht zwingend Science-Fiction-Fan sein. Wer ein Faible für historische Romane hat und sich auch der Fantasy gegenüber nicht ganz abgeneigt zeigt, der wird an diesem außergewöhnlichen Zyklus sicher seine Freude haben. War der erste Band der Reihe noch alles andere als vielversprechend, so konnte ";Eroberer"; mich persönlich absolut begeistern. Ob der Autor im Folgeband das Rätsel um die Zeitverschwörung lüften wird, bleibt abzuwarten. ";Navigator"; wird der Titel des dritten Bands lauten. Klingt doch irgendwie vielversprechend. Ich jedenfalls bin gespannt, wohin die Reise uns führen wird.
Stephen Baxter, Heyne
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