Der Mann, der angeblich alles vorher wusste
In der beschaulichen bretonischen Hafenstadt Nantes wird er 1828 als Sohn eines erfolgreichen Anwalts in eine recht behütete Welt geboren: Jules Verne, der einst die Kanzlei des Vaters übernehmen, standesgemäß heiraten, eine vorzeigbare Familie gründen und sich fromm, konservativ und geschäftstüchtig verhalten soll. So ist es üblich im Bürgertum nicht nur der französischen Provinz, in der jede Generation der nächsten ein Vorbild an Rechtschaffenheit und Biedersinn zu sein hat.
Jules fügt sich dem zunächst auch; er wird ein ernster junger Mann, der zu den Privilegierten des Landes gehört und das Elend der unterdrückten Unterschicht nur aus der Ferne kennt. Doch da ist etwas, das ihn vom vorgeschriebenen Pfad abweichen lässt: Jules ist ein Mann mit Fantasie und Kunstsinn. Nicht die Jurisprudenz lockt ihn, sondern das Theater. Ein Studienaufenthalt in Paris verschafft ihm die notwendige Selbstständigkeit. Jules Verne verfolgt mit Energie seinen Traum. Seine Stücke werden zwar selten aufgeführt, der Erfolg will sich nicht einstellen. Der junge Mann bleibt hartnäckig, erweitert sein schriftstellerisches Spektrum, schreibt nunmehr auch abenteuerliche Geschichten.
1863 gelingt ihm unter dem Patronat des Verlegers Theodor Hetzel mit `Fünf Wochen im BallonA der Durchbruch. Jules Verne hat seine Nische, den "wissenschaftlichen Roman", gefunden, mischt meisterhaft Fakten mit Fiktion und trifft damit den Geschmack seiner Zeitgenossen. Mehr als 60 umfangreiche "Voyages Extraordinaires" wird er in den nächsten vier Jahrzehnten verfassen, darunter klassische Best- und Longseller wie "Die Reise zum Mittelpunkt der Erde", "20.000 Meilen unter dem Meer", "Der Kurier des Zaren" oder "In 80 Tagen um die Welt". Vernes außergewöhnliche Reisen führen in jeden bekannten und vor allem unbekannten Winkel dieser Erde und schließen auch den Weltraum nicht aus ("Von der Erde zum Mond"/"Reise um den Mond"). Die Literaturkritik nimmt ihn mit einem Naserümpfen zur Kenntnis, aber seine stetig zahlreicher werdenden Leser lieben ihn.
Seine unerhörte Produktivität, die mit den Jahren eher noch wächst, lässt Verne auf dem Buchmarkt omnipräsent werden. Aus dem brotlosen Künstler und Gelegenheits-Börsenmakler wird ein wohlhabender, prominenter Mann, der gern weite Reisen unternimmt und sich kostspielige Jachten leistet. Hinter der Schreibwut verbirgt sich indes eine private Rastlosigkeit und Unzufriedenheit: Jules Verne ist unglücklich verheiratet, versagt als Vater. Vor Konflikten flüchtet er ins Arbeitszimmer und seine Traumwelten. Sein nach eigener Auskunft ereignisloses Leben ist daher oftmals turbulent. Im Alter er- und überlebt Verne bittere familiäre Auseinandersetzungen, Krankheit, sogar ein Attentat. Als der Autor 1905 stirbt, kann die Veröffentlichung 'neuer' Verne-Romane noch Jahre ohne Unterbrechung fortgesetzt werden.
Biografie ohne Klischees und Legenden
Jules Verne: ein Synonym für die Technikgläubigkeit des 19. Jahrhunderts, ein Visionär, einer der Väter der Science Fiction gar, der eine Vielzahl von Erfindungen 'voraussah', die erst viel später Realität wurden. Berühmt für seinen besessenen Eifer, mit dem er über die Schauplätze seiner außergewöhnlichen Reisegeschichten in der Fachliteratur recherchierte. Es sollte möglichst jedes Detail stimmen oder wenigstens stimmig ausgedacht sein. Unterhalten und informieren und das auf hohem Niveau - die Rechnung ging bekanntlich auf.
Wieso dies ein verzerrtes Bild ist, erläutert Verne-Biograf Volker Dehs, der viele bekannte und vor allem unbekannte Werke und Privatschriften des Schriftstellers suchte, fand und überprüfte. Ein weiterer Verdienst dieser neuen Verne-Biografie liegt in dem Bemühen, den Menschen Jules Verne hinter seinem Werk zu entdecken. Dort verbarg sich dieser allzu gern. Als er längst zur lebenden Legende geworden war, vernichtete Verne beispielsweise fast seine gesamte Privatkorrespondenz. Nur sein Werk, um das er sich bis zuletzt kümmerte, sollte überleben.
Nicht nur solches Verhalten hat wenig zu tun mit dem Bild des eindimensional optimistischen Technikjüngers, der angeblich den Fortschritt verherrlichte und die Zukunft in leuchtenden Bildern malte. Auch dieser Verne war nur eine Rolle - dieses Mal geschrieben von Vernes lebenslangen Verleger und Freund Pierre-Jules Hetzel, dem mehr an der Vermarktung der Verne-Bücher und weniger an deren literarischer Qualität gelegen war.
Einblick in ein unruhiges Bürgerleben
Denn Jules Verne war ein komplexer Mensch mit vielen und auch widersprüchlichen Charakterfacetten. Er lebte und schrieb bereits vor 1863, er blieb aktiv bis ins frühe 20. Jahrhundert. Erst das Gesamtwerk lässt einen ganz anderen Verne zum Vorschein kommen - keinen Wissenschaftler, sondern einen Geschichtenerzähler, der als Schriftsteller ausgiebig in den Werken seiner Vorgänger und Zeitgenossen wilderte und das Tun und Treiben seiner Mitmenschen seit jeher mit einer Skepsis betrachtete, die mit den Jahren höchstens ausgeprägter wurde: Verne wusste über Wissenschaft und Technik auch nicht mehr als die meisten Männer seiner Zeit; daraus machte er selbst nie einen Hehl. Er verstand jedoch mit Fakten zu "arbeiten", sie zu verweben und in Zusammenhänge zu stellen, in denen man sie nicht kannte - ein handwerklich hochroutinierter Berufsautor eben. Verne lernte zudem dazu, im Guten wie im Schlechten, was sein Werk ebenfalls prägte. Von ungefähr kommt es nicht, dass die späten Romane kaum oder gar nicht neu aufgelegt werden, während Professor Lidenbrock, Phileas Fogg oder Kapitän Nemo noch viele Generationen junger und alter Leser fesseln konnten und wohl noch werden.
Eine bemerkenswerte Leistung stellt Dehs Rekonstruktion des Verneschen Privatlebens dar. Die Belege sind wie gesagt bruchstückhaft, zahllose Archive mussten auf weit verstreute Fakten durchsucht, zeitgenössische Briefe ausgewertet werden - die Anhänge sprechen in dieser Hinsicht eine deutliche Sprache. Ohne Klatsch und Tratsch, dafür mit manchmal stupendem Detailreichtum, der die Lektüre hier und da ein wenig zäh werden lässt, beschreibt Dehs ein vielleicht unspektakuläres, dabei jedoch keinesfalls uninteressantes Leben. Überraschendes kommt dabei ans Tageslicht: Eigenes Erleben und die Erlebnisse von Freunden und Verwandten arbeitete Verne regelmäßig in seine Romane und Theaterstücke ein und machte sich dabei einen Spaß daraus, diese sogar unter falschen oder veränderten Namen auftreten zu lassen. Das verschaffte ihm die Gelegenheit, sich aus dem sicheren Arbeitszimmer heraus für erlittenes Unrecht zu rächen, während er die offene Konfrontation scheute.
Bisher nur wenig bekannt ist auch eine dramatische Episode aus Vernes Leben, die sich 1886 ereignete und den Schriftsteller für den Rest seines Lebens psychisch und körperlich zeichnete. Sein eigener Neffe Gaston, ein geistig verwirrter junger Mann, verübte ein Attentat auf ihn, das Verne zum Invaliden machte. Zum ersten Mal wird dieses Ereignis von Dehs mit Hilfe zeitgenössischen Polizeiprotokolle und Zeitungsberichte aufgerollt. Es ist ein wichtiger Schlüssel zum Verständnis des "späten" Jules Verne, der sich nach 1886 mehr und mehr von der Welt und in die Arbeit zurückzog.
Volker Dehs (geb. 1964) hat Leben und Werk des Jules Vernes schon vor vielen Jahren zu seinem speziellen Interessengebiet gemacht. Zahlreiche einschlägige Publikationen hat er veröffentlicht, darunter schon 1986 eine erste, noch auf früheren und begrenzten Erkenntnissen basierende und daher knappe Verne-Biografie. Aus seiner Feder stammt auch eine 2.500 Titel umfassende Aufstellung von Werken und Artikeln, die sich bis einschließlich 2001 mit der Arbeit Jules Vernes beschäftigen. Als Literaturwissenschaftler lebt und arbeitet Volker Dehs in Göttingen.
Jules Verne, -
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