Weltengänger
- Heyne
- Erschienen: Januar 2007
- 18
Der 'Entwurf' ist fast perfekt
Die Idee ist nicht neu: Stellen Sie sich vor vor, Sie kommen nach Hause und keiner erkennt Sie mehr. In Ihrer Wohnung wohnen Fremde, an Ihrem Arbeitsplatz haben Sie nie gearbeitet.
Bei Kirill ist dieser Prozess schleichend. Er kommt er nach Hause, doch in seiner Wohnung befindet sich eine ihm unbekannte Frau. Doch nicht nur das: sämtlich Möbel sind neu, die Küche ist neu gefliest und hat einen anderen Boden. Das alles innerhalb eines Tages zu bewerkstelligen ist kaum möglich. Sein Hund ist das einzige, was er in seiner Wohnung wiedererkennt. Doch der kennt seinen Herrn nicht mehr. Die Nachbarn können zwar bezeugen, daß Kirill dort wohnt, doch den Papieren nach ist die fremde Frau Besitzerin der Wohnung.
Kirill ist zum Glück nicht völlig obdachlos, denn er kann zunächst in die Wohnung seiner Eltern ziehen, die zur Zeit im Urlaub sind. Seinem Freund Kotka vertraut er sich an. Doch dieser kann ihm auch nur kurzzeitig weiterhelfen, denn bereits am nächsten Tag ist Kotjas Erinnerung an Kirill verblasst. Ebenso verblasst wie das Bild und die Schrift in Kotjas Pass, das letzte Schriftstück, das seine Existenz beweisen konnte.
Eine Kurzgeschichte mit diesem Thema würde hier enden, Lukianenkos "Weltengänger" aber fängst jetzt erst richtig an.
Denn Kirill wurde eine Aufgabe zugedacht: er wird ein "Funktional". Er soll als Zöllner zwischen zwei Parallelwelten tätig sein und lebt fortan in einem Turm mit fünf Türen, von denen sich zunächst nur zwei öffnen lassen: diejenige, durch die Kirill in Moskau den Turm betreten hat und eine andere, durch die er nach Kimgim kommt, eine andere Welt. Nur langsam begreift Kirill, was sich sonst noch verändert hat, doch vieles begreift er noch nicht...
Das Menschliche geht trotz übermenschlicher Eigenschaften nicht verloren
Tore in andere Welten - kommt uns das nicht irgendwie bekannt vor? Genau - bereits in seinem Roman "Spektrum" reisten Sergej Lukianenkos Romanhelden durch Tore, deren Entstehung nicht näher erörtert wurde, auf fremde Planeten. Dort gab es Pförtner, hier gibt es Zöllner, die den Verkehr an den Toren überwachen. In "Weltengänger" sind es keine anderen Planeten, die bereist werden können, sondern - nennen wir sie - andere Welten oder besser noch andere Erden.
Doch was diese andere Erden darstellen sollen, das wird dem Leser erst nach und nach zugänglich. Dabei hat Lukianenko wieder viel von der politischen Situation in Russland, speziell in Moskau zur jetztigen Zeit und auch zu früheren Zeiten hinein gepackt. Er zeigt die aktuellen Mißstände auf und versucht, Lösungsvorschläge für die Probleme zu unterbreiten.
Der Originaltitel "Tschernowik" lässt sich mit "Entwurf" übersetzen. Der Roman selber ist sicherlich nicht nur ein "Entwurf", dazu ist er bereits zu perfekt. Der Titel scheint sich eher auf die verschiedenen Welten zu beziehen. Doch darauf kann ich hier nicht weiter eingehen, ohne zuviel zu verraten.
Mit Kirill hat Lukianenko wieder einen seiner typischen Anti-Helden wie Anton aus den Wächter-Romanen oder wie Martin aus "Spektrum" entworfen. Einen der jungen Männer, die durch ein unvorhergesehenes Ereignis aus dem "normalen" Leben gerissen werden und sich zwangsweise in der neuen Situation behaupten müssen. Ein sympathischer Charakter, dem trotz seiner neuen übermenschlichen Eigenschaften das Menschliche nicht verloren geht. Das ist es, was dem Leser einen Bezug zum Inhalt verleiht und ihn an die Abenteuer fesselt, die "sein" (Anti-)Held zu bestehen hat.
Vorfreude auf die Cliffhanger
Der russische Autor entwickelt sich immer besser zu einem grandiosen Erzähler. Selten waren die Cliffhanger zum Kapitelende schöner als bei Lukianenko. Denn dann kann man sich wieder auf einen neuen Kapitelanfang freuen - und dort verbreitet der Autor meist seine Gedanken in humorvoller Weise über dieses und jenes. Über nächtelanges Durchsaufen, moralisch vertretbare Diebstähle, die verschiedenen Arten des Aufwachens, die Aufgaben des Helden in einem Märchen, den Unterschied der Fortbewegungsart zwischen Kindern und Erwachsenen, über Unbesonnenheit, Angst oder Schmerzen. Und dies nicht so ausschweifend wie gewohnt, sondern kurz, knackig und prägnant. Doch nicht nur in diese Anfangsbemerkungen, sondern quer durch das gesamte Buch baut Lukianenko seine Anspielungen ein, von denen dem nicht-russischen Leser sicherliche einige entgehen.
Wem "Spektrum" gefallen hat, der wird am "Weltengänger" auch seine Freude haben. Es gibt zwar einige Parallelen zwischen den beiden Romanen, doch jedes der beiden Werke hat seine individuellen Vorzüge. Das schrittweise Begreifen der komplexen Situation, das Kirill erleben muß, sorgt für einen kontinuierlichen Spannungsbogen und hält den Leser gebannt fest wie einige überraschende Wendungen sowie die humorvollen Zwischenbemerkungen des Autors. Obwohl noch eine Fortsetzung des Werkes auf die deutschen Leser wartet, ist "Weltengänger" ein abgeschlossener Roman mit einem überraschenden und für mich persönlich etwas zu kurz geratenem Ende, an dem zwar einige kleine, aber nicht grundlegende Fragen offen geblieben sind. Vielleicht klären sich diese ja in "Tschistowik" (der Endfassung) ja noch auf. Stoff genug bieten die Welten sicherlich auch für mehr als ein weiteres Buch.
Sergej Lukianenko, Heyne
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