Die Jahre des Schwarzen Todes
- Heyne
- Erschienen: Januar 1993
- 3
Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?
"Einer der besten Zeitreiseromane, die je geschrieben wurden" - ein Klappentext, dem voll und ganz zugestimmt werden kann. "Die Jahre des schwarzen Todes" hat dieses Prädikat verdient: Keine der fast 800 Seiten ist überflüssig - im Gegenteil. Und bis zum Schluss sind einem Mr. Dunworthy, Kivrin, Colin und die übrigen Protagonisten derart ans Herz gewachsen, dass man mehr von ihnen lesen möchte.
Wenige Schauplätze
Connie Willis hat mit "The Doomsday Book" - so der Originaltitel - einen Zeitreiseroman verfasst, der seinesgleichen sucht. Die Reise führt ins Mittelalter. Aber Connie Willis entwirft nicht das große Panorama: praktisch die ganze Handlung spielt sich in einem einzigen Haus ab - von einigen kurzen Abstechern in den zugehörigen winzigen Weiler und in den nahen Wald abgesehen. Ebenso der andere Handlungsstrang, der im Oxford der Gegenwart spielt: Zwei Colleges und das nahe Krankenhaus sind die einzigen Handlungsschauplätze.
Und trotzdem vermittelt Frau Willis dem Leser ein lebendigeres Gefühl für das Mittelalter als dies ein historischer Roman vermag. Zum einen, weil es am Erleben und Empfinden eines "modernen" Menschen gespiegelt wird, zum anderen, weil es die Autorin meisterhaft versteht, ihre solide Recherchearbeit über historische Hintergründe unaufdringlich in den Text einfließen zu lassen.
"Etwas stimmt hier nicht"
Oxford im Jahre 2035: Zeitreisen sind in den historischen Fakultäten der Colleges an der Tagesordnung. Eben soll die Studentin Kivrin Engels zu Forschungszwecken ins Mittelalter geschickt werden, genauer: ins Jahr 1320. Ihr Mentor, Professor Dunworthy ist über die mangelnden Sicherheitsvorkehrungen des stellvertretenden College-Leiters empört und versucht, die Reise bis zur letzten Minute zu verhindern. Vergeblich.
Und tatsächlich geht etwas schief: Der verantwortliche Techniker erleidet kurz nach dem Transfer einen Zusammenbruch. Er versucht zwar noch, die Projektleiter über eine Panne zu informieren, kommt aber über den beunruhigenden, aber letztlich nichtssagenden Satz hinaus: "Etwas stimmt hier nicht". Und von diesem Moment an läuft das Unternehmen vollständig und auf immer erschreckendere Weise aus dem Ruder - in einer Weise, die sich nicht einmal der überfürsorgliche Professor Dunworthy hätte träumen lassen.
Connie Willis Roman erzählt zwei Geschichten, die durch die Zeitmaschine und viele Parallelen miteinander verknüpft sind. Genauso schwer, wie der Techniker bei Kivrins Abreise erkrankt, erkrankt sie selbst kurz nach ihrer Ankunft im Mittelalter. So schwer, dass sie sich danach nicht mehr an ihren Ankunftsort erinnern kann. Diesen muss sie aber dringend wiederfinden, sonst wird man sie zwei Wochen später nicht in ihre Zeit zurückholen können. Was sie die ganze Zeit über nicht ahnt: Sie wurde ins falsche Jahrzehnt geschickt - ein fataler Fehler.
Der erkrankte Techniker, der sich tagelang in einem tranceähnlichen Zustand befindet, ist der einzige, der Kivrins Ankunftskoordinaten kennt, mit deren Hilfe man sie zurückholen könnte. Und die Zeichen häufen sich, dass Kivrin dringend früher zurückgeholt werden sollte. In einem Wettlauf gegen die Zeit, gegen unglaubliche Widrigkeiten und gegen die Borniertheit seiner Zeitgenossen versucht Professor Dunworthy alles, um seine Studentin zu retten.
Theologischer und ethischer Diskurs
"Die Jahre des schwarzen Todes" ist mehr als ein Zeitreiseroman. Auf verblüffend organische Weise flicht die Autorin einen tiefgehenden theologischen und ethischen Diskurs über die Begriffe Aufopferung, Fürsorge und Erlösung in ihre spannende Geschichte ein, wohltuend unaufdringlich und undogmatisch. Es gelingt ihr, damit den Blick zu öffnen für neue Interpretationen biblischer Überlieferungen und religiöser Grundsteine, wie etwa den Tod des Erlösers am Kreuz. Frau Willis vermeidet dabei jegliches Dozieren, sie weckt höchstens Assoziationen und überlässt es dem Leser, die (naheliegenden) Schlüsse daraus zu ziehen. "Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?" wird zum Leitmotiv dieses Romans, darauf läuft die ganze Handlung letztlich hinaus.
Die Erzählweise ist trotz einer gewissen Langsamkeit unglaublich dicht und packend. Dies resultiert aus der Tatsache, dass Connie Willis zahllose Details auf geschickte Weise so einflicht, als könnten sie für den Fortgang der Erzählung von entscheidender Wichtigkeit sein. Eine entlaufene Kuh könnte die ersehnte Wendung bringen, ein Spaziergang den alles entscheidenden Hinweis, welcher der im Mittelalter gestrandeten Kivrin den Weg zurück ins Jahr 2035 weist. Toilettenpapierknappheit, ein grauer Wollschal, ein Bilderbuch übers Mittelalter - alles könnte die Handlung um den nächsten entscheidenden Schritt weiterbringen. Diese ganz eigene Erzählweise der "vorwärtsdrängenden Langsamkeit" lässt keine einzige der nahezu 800 Seiten langweilig oder gar überflüssig erscheinen.
Willis' Schreibstil ist elegant, auf sprachlich hohem Niveau und dabei äusserst witzig. Wer ihren ebenfalls auf Deutsch erschienen Roman "Die Farben der Zeit" kennt und ihren Stil schätzt, wird auch an diesem Werk seine Freude haben. Je weiter die Katastrophen jedoch voranschreiten, desto mehr tritt der Schalk in den Hintergrund und macht einer nüchternen, absolut unaufgeregten Erzählweise Platz. Ihre Figuren sind Menschen aus Fleisch und Blut, und die Art, wie deren inneren Vorgänge erleb- und nachvollziehbar gemacht werden, trägt ein Weiteres zum Sogeffekt bei, den dieser Roman ausübt.
Dass er neben dem hohen Unterhaltungswert ernsthafte Themen und religiöse Fragen mit großer gedanklicher Tiefe aus dem Stoff herausholt, macht "Die Jahre des schwarzen Todes" zu einem der wirklich großen und wichtigen Beiträge des Genres Zeitreise.
Das Buch macht große Lust auf weitere Werke dieser Autorin. Leider liegen nur drei ihrer neun Romane und nur eine ihrer fünf Storysammlungen auf Deutsch vor... Abhilfe schaffen, bitte!
(Michael Scheck, Februar 2012)
Connie Willis, Heyne
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