Der 77. Grad
- Droemer-Knaur
- Erschienen: Januar 2005
- 2
Ikonen-Jagd auf zwei Zeitebenen
Als mäßig erfolgreicher Antiquar und Fachmann für historische Karten fristet Harry Blake sein bescheidenes Einkommen. Für den reichen Sir Toby Tebbit soll er ein verschlüsseltes Tagebuch auf seine Echtheit überprüfen, das diesem angeblich ein Verwandter im fernen Jamaika vererbte. Blake schlägt ein, doch der scheinbare Routineauftrag entpuppt sich als Spießrutenlauf: Noch hat er keinen genauen Blick auf das Werk werfen können, da tritt schon eine erste Unbekannte drohend an ihn heran und fordert die Herausgabe. Blake weigert sich selbstverständlich und informiert Sir Toby, der sich etwas zu offensichtlich unwissend gibt. Weitere und immer bedrohlicher werdende Attacken erschrecken Blake, der das Tagebuch übersetzt und herausfindet, wieso es für seine Gegner von solchem Wert ist.
Es erzählt von den Erlebnissen des James Ogelvie, eines Schotten, der 1585 - zur Zeit der anglikanisch-protestantischen Königin Elisabeth I. - mit dem berühmten Seefahrer Sir Walter Raleigh auf eine Reise in die Karibik geht. Ziel ist es, den ";Längengrad Gottes” zu finden und dort eine Kolonie zu gründen. Doch der (katholische) Feind schläft nicht. Mörder gehen auf dem Schiff um und wollen das Unternehmen sabotieren. Sie führen heimlich eine christliche Reliquie von unerhörter Kraft mit sich, die besagte Kolonie im Namen von Maria Stuart, Elisabeths Erzkonkurrentin und Rivalin um den Thron, zu einem Zentrum der katholischen Bewegung umwerten soll.
In der Gegenwart wird Sir Toby umgebracht. Der entsetzte Blake setzt sich mit dessen Tochter Debbie in Kontakt und sucht die Unterstützung der Historikerin Zola Khan. Gemeinsam bemüht man sich das Rätsel der Ogelvie-Aufzeichnungen zu lüften, bevor dem mysteriösen Gegner dies gelingt. In der Vergangenheit wie in der Gegenwart hören die Gewalttaten nicht auf, sodass sowohl der junge James als auch Harry, Zola und Debbie in Lebensgefahr geraten ...
Bill Napier singt im Dan-Brown-Chor ...
Vorab ein Wort der (Ent-) Warnung: ";Ein packender Mysterythriller für die Fans von Scott McBain und Dan Brown”, dröhnt die Werbetrommel auf dem Backcover. Man beachte die Reihenfolge: Dan Brown kennt und liest bekanntlich jede/r, und Scott McBain ist einer seiner (sogar noch) minderbegabteren Nachahmer, der seine Trash-Thriller hierzulande recht erfolgreich im Knaur Verlag (Aha!) veröffentlicht; möge das Publikum den Hieb mit dem Zaunpfahl verstehen und auch Bill Napier durch reichliche Buchkäufe würdigen ...
Aber Napier verdient den Vergleich mit gleich zwei tonfüßigen Bestseller-Fabrikanten nicht. Sein Werk kann für sich selbst stehen. Wer’s mag (oder braucht), darf die Schubladen ";Literatur” und ";Unterhaltung” aufziehen: ";Der 77. Grad” gehört in letztere. Als solche kann dieser Roman nicht nur gut mithalten in der Flut der meist grässlichen Copy-Thriller um biblische & historische Mysterien, sondern schwimmt sogar an der Oberfläche auf.
... aber er klingt besser!
Das Rätsel des 77. Grads wird bereits recht früh gelüftet - eine gute Entscheidung, denn vermutlich hätte es ins Finale verlegt die meisten Leser irritiert und unzufrieden aus der Geschichte entlassen. Ohne an dieser Stelle Entscheidendes zu verraten, darf immerhin erwähnt werden, dass es um den Streit zwischen katholischer und anglikanisch-protestantischer Kirche geht, der zu den prägenden Ereignissen des 16. Jahrhunderts gehört. Die Intensität dieses Kampfes, der zugleich hochpolitisch war und mehrfach in Kriege ausartete, lässt sich heute vom historischen Laien schwer nachvollziehen. Doch damals war diese Auseinandersetzung eine Grundsatzfrage, deren Entscheidung unzählige Menschen das Leben kostete.
Nur in diese Welt passt ein kompliziertes Komplott, wie es Autor Napier entwirft. Es geht um Kartografie, Kalender, Kolonien. Realpolitik und Religion finden eng miteinander verknüpft statt. Aus heutiger Sicht wirkt das wie gesagt abstrakt. Napier gleicht dies aus, indem er zusätzlich eine christliche Super-Reliquie ins Geschehen bringt, die auch im 21. Jahrhundert enorme Begehrlichkeiten wecken kann. So schafft er eine einleuchtende Verbindung zwischen den beiden im Wechsel geschilderten Handlungsebenen: Quasi parallel kommen James Ogelvie 1585 und Harry Blake & Co. in der Gegenwart dem Mysterium auf die Spur - ein geschickter Kunstgriff, der die Spannung verdoppelt - und einen ";modernen” Thriller immer wieder mit dem Historienroman kreuzt: zwei beliebte Genres in nur einem Roman!
Die rasante Handlung folgt recht ausgefahrenen Pfaden. Im Ausknobeln eines Plots ist der Verfasser eindeutig besser. Vor allem jener Strang, der im 21. Jahrhundert spielt, gleicht den Schnitzeljagden, die heute in allen Unterhaltungsmedien zum Thema ";Rätsel und Schätze der Vergangenheit” stattfinden. Napiers Jamaika ist beispielsweise eine karibisch knallige Rastafari-Insel, auf der lässige Lebensfreude und schonungslose Gewalt nahtlos ineinander übergehen.
Es ist objektiv schwer zu entscheiden, wie eine originellere Handlung aussehen könnte, da wir nie mit einer solchen konfrontiert werden. Immerhin ist Napier Routinier genug, den Spannungsbogen nicht abreißen zu lassen, während er immer wieder in die Vergangenheit zurückkehrt, die er mit Einfallsreichtum und Fachwissen zu beleben weiß.
Simple Figuren in einer komplizierten Story
Bill Napier mag es klassisch: Sein ";Held” ist ein Jedermann, der zwar über gewisse intellektuelle Fähigkeiten, nicht jedoch über (körperliche) Kräfte gebietet, die ihn über den Durchschnitt erheben bzw. ihm helfen, sich gegen seine skrupellosen, brutalen, schwer bewaffneten Feinde durchzusetzen. Harry Blake - schon der Namen symbolisiert Alltäglichkeit - ist ein beruflich und privat wenig erfolgreicher Antiquar, also ein weltfremder und schwächlicher Zeitgenosse, wie ihn das Klischee für Romane wie diesen fordert.
";Klischee” ist ein wichtiges Wort, denn Blake trifft auf Böslinge, die wohl nur in der Märchenwelt des ";77 Grades” Angst und Schrecken versetzen können, mimen sie doch so drastisch die chronischen Möchtegern-Weltherrscher, dass es schon wieder lächerlich wirkt. Da haben wir also den irrsinnig-fanatischen Superschurken, dem selbstverständlich eine ebenso schöne wie zutiefst verdorbene weibliche Schönheit (die hier auch noch auf den Namen ";Cassandra” hört) zur Seite steht. Sie und diverse vertierte Helfershelfer gieren förmlich danach zu foltern und zu morden; alle orientieren sich in Wort und Tat an den kindischen James-Bond-Thrillern der Vor-”Casino-Royale”-Ära. Wie es diesen Knallchargen gelingt, einen weltweit aktiven Geheimbund zu gründen und zu führen, ist das wahre Rätsel dieser Geschichte ...
Auch im Spiegel stimmt das Bild: Wie es sich gehört, kann sich Harry auf einen kleinen Kreis ergebener Helfer stützen, zu denen erwartungsgemäß eine hübsche, tatkräftige (Reihenfolge beachten!) Frau gehört. Hier sind es derer sogar zwei, denn neben die tatkräftige Fachfrau Zola Khan (was für ein Name!) tritt - als Identifikationsfigur für jüngere Leser? - die erst süße 19 Jahre zählende Anbeißmaus Debbie; keine der guten Ideen des Verfassers.
Siehe da, irgendwann lässt Napier plötzlich durchblicken, dass Harry nicht immer ein Antiquar gewesen ist. Düster fallen Namen von Orten, die Großbritanniens Einsätze in diversen Kriegen der näheren Vergangenheit dokumentieren, an denen Harry anscheinend als Soldat teilgenommen hat. So wirkt es einleuchtender, wenn er den Schurken, die ihn ständig überfallen, Saures geben kann.
Wesentlich ";lebensechter” wirken die Figuren des Ogelvie-Handlungsstrangs. Der Verfasser profitiert hier von der Tatsache, dass er Personen schildert, deren Äußerungen und Verhalten schwer oder gar nicht nachgeprüft werden können: Wer kennt sich als Leser so genau im Jahre 1585 aus, dass ihm (oder ihr) Verstöße gegen die historische Realität bewusst werden? Dem besser mit der Materie vertrauten Kritiker fällt jedenfalls auf, dass sich auch die Bewohner der Vergangenheit primär so verhalten, wie es uns Lehrfilmen wie ";Fluch der Karibik” oder ";Master and Commander” nahe brachten. Zumindest der fiktiven Vergangenheit steht das Klischee jedoch besser als der Realität. Oder anders ausgedrückt: Dieses Garn ist dick genug, dass wir alle unser Lieblingsfädchen daraus zupfen können.
Bill Napier, Droemer-Knaur
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