Scar Night
- Goldmann
- Erschienen: Januar 2007
- 9
Blut und Rost
Ohne Blut im toten Körper kommt die Seele nicht in den Himmel: Doch der Himmel über Deepgate, die Stadt an den Ketten, das ist die Hölle im endlosen Abgrund darunter, regiert vom gefallenen Engel Ulcis. Der Himmel in der Höhe dagegen ist eine geschlossene Veranstaltung der Göttin Ayen: sie feiert lieber allein mit ihren Engeln und lässt die armen Sünder vor der Pforte stehen - egal, was sie anstellen.
Es ist ein wirklich faszinierendes theologisches - und architektonisches - Konzept, dass der Schotte Alan Campbell zur Grundlage seines ungewöhnlich atmosphärischen Erstlings "Scar Night" gemacht hat. Die Stadt Deepgate hängt an zahllosen gigantischen Eisenketten über einem scheinbar unendlich tiefen Abgrund. Ihre Regeln werden bestimmt von den miesepetrigen Würdenträgern einer intoleranten Religion, in der sich alles um Blut, Sünde, Erlösung und ewiges Leben dreht. Campbell öffnet die Geheimnisse der Kettenstadt kleinschrittig, indem er die Charaktere der Hauptfiguren nach und nach offen legt. Da ist zum einen der Oberpriester Sypes, der die Lüge seiner Religion bewusst auslebt; Mr. Nettle, der über Leichen geht, um die Seele seiner Tochter zu retten; der Alchemist Devon, psychisch und physisch verkrüppelt von den Ergebnissen seiner Arbeit; Rachel, eine angehende Spine-Elitekämpferin, und schließlich Dill, ein echter Engel, unsicher, pubertär und ahnungslos. Die faszinierendste Figur ist jedoch Carnival: Seit 2000 Jahren heimsucht sie allmonatlich die wankenden Gassen von Deepgate, um sich im wahrsten Sinne des Wortes eine arme Seele einzuverleiben.
Doch mit ihrem düsteren Facettenreichtum steht die Kettenstadt den handelnden Protagonisten in grotesk-gotischem Charakter kaum nach. Sie qualmt und stinkt in bester Steampunk-Manier, sie ist labyrinthisch-verfallen wie ein exotische Ghormenghast-Variante, sie schwärt, wabert und rostet, sie ist korrupt wie China Miévilles New Crobuzon. In ihrer Mitte steht der Tempel, von wo aus alle toten Körper auf den Weg nach unten befördert werden. Deepgates Armee verfügt über Luftschiffe und chemische Kampfstoffe, die bedenkenlos gegen Feinde eingesetzt werden. Ganze Stadtteile stürzen in den Abgrund, wenn Ketten reißen. Die ganze Kultur der Stadt scheint auf den Tod zu warten, auf Tod aufgebaut zu sein, um ewig in ihm zu leben.
Diese kaum verhohlene Todessehnsucht treibt denn auch die meisten Hauptfiguren an. Während Dill, der letzte Engel in einer langen Ahnenreihe von Engelskriegern, von den Kirchenoberen für ihre überkommenen Rituale instrumentalisiert wird, zieht der wahnsinnig gewordene Wissenschaftler Devon die Stadt und das Nomadenvolk der Heschette in einen Krieg. Rachel soll Dill beschützen und gerät mit der vampirartigen Carnival aneinander, doch der größte Kampf steht dem ungleichen Trio noch bevor - im Abgrund unter der Stadt an den Ketten.
Selbstbewusstes Debüt
Kaum zu glauben, dass "Scar Night" ein Debütroman ist. Die Geschichte ist dunkel, atmosphärisch und actionreich, die Charaktere - besonders die weiblichen - sind geheimnisvoll und verzweifelt, das Setting gothic, ohne es mit der entsprechenden sprachlichen Ornamentik zu übertreiben; Dark Urban Fantasy sagen die Briten und Amerikaner dazu. Provokant sind übrigens die unverhohlenen Anspielungen auf den Katholizismus. Und scheinbar ist Edinburgh für Fans einen Besuch wert, Campbell sagt im Interview mit Phantastik-Couch.de, dass ihn seine Heimatstadt zu dem Roman inspiriert hat.
"Scar Night" wurde in englischsprachigen Ländern nicht ohne Grund ziemlich gehypt. Der Roman repräsentiert wie Scott Lynchs "Die Lügen des Locke Lamora" eine neue und selbstbewusste Richtung der Fantasy für alle, die nichts mehr über Zauberer, Elfen und Zwerge lesen wollen. Mehr als unterhaltsam und höchst empfehlenswert, trotz des etwas behäbigen Einstiegs und nahezu unerträglichen Cliffhangers.
Alan Campbell, Goldmann
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