Dreiherz
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: April 1980
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Verwirrter Ritter in über-irdischer Mission
Holger Carlsen kämpft in der dänischen Untergrundbewegung gegen die Nazis. Bei einer Schießerei streift eine Kugel seinen Kopf. Holger verliert das Bewusstsein - und erwacht in einer fremden Welt. Dort erwartet ihn ein Schlachtross, und daneben liegen eine Rüstung, ein Schwert und eine Lanze.
Ratlos schwingt sich Holger in den Sattel. Es dauert eine Weile, bis ihm klar ist, dass er sich nicht mehr in der Welt des Kriegsjahres 1943 befindet, sondern in ein buchstäblich mythisches Reich geraten ist. Es ähnelt dem Mittelalter - mit einem gewichtigen Unterschied: Hier gibt es Magie sowie Feen, Trolle, Riesen und andere mythische Wesen.
Die Menschen dieser Welt liegen im Krieg mit den überaus feindseligen Feen der „Mittelwelt“. Holger ist als Ritter Dreiherz bekannt, der in dieser Auseinandersetzung ahnungslos eine wichtige Position einnimmt: In der Vergangenheit hat er schon mehrfach auf Seiten der Menschen gefochten und gilt als legendärer Held und Retter. Eine böse Zauberin hatte ihn irgendwann auf ‚unsere‘ Erde verbannt und ihm die Erinnerung geraubt.
Nun ist „Sire Holger“ zurück - ohne Wissen um seine Mission und auf der Suche nach einem Magier, der ihm in seine Welt schicken kann, reist Holger durch ein Land, an dessen Grenzen die Truppen der „Mittelwelt“ aufmarschieren. Rachsüchtige Feen, ein feuerspeiender Drachen und die Hexenkönigin Morgan le Fay kreuzen Holgers Weg, während er nur sein Pferd, den abenteuerlustigen Waldzwerg Hugi und das Schwanenmädchen Alianora auf seiner Seite weiß …
Gegen die Nazis u. a. Mächte der Finsternis
1953 war Poul Anderson (1926-2001) ein junger Autor, der noch auf den Durchbruch wartete, sich aber schon einen Namen als versierter Autor phantastischer Kurzgeschichten gemachte hatte, wobei er sowohl Science Fiction als auch Fantasy schrieb. Anderson war fest entschlossen seinen Lebensunterhalt als professioneller Schriftsteller zu verdienen. Nach dem Zweiten Weltkrieg sorgte dies für lange Tage und Nächte an der Schreibmaschine, denn die zeitgenössischen Magazine zahlten notorisch schlecht.
Noch hatte der Siegeszug des Taschenbuches nicht begonnen. Obwohl „Three Hearts and Three Lions” ein romanlanger Text war, veröffentlichte Anderson ihn erst 1961 als Buch. Erstmals erschien diese Geschichte 1953 in zwei aufeinanderfolgenden Ausgaben (September/Oktober) des „Magazine of Fantasy and Science Fiction“ und damit in einer noch recht jungen Publikation, die den Untergang der „Pulp“-Ära nicht nur überleben, sondern sich zu einem der wichtigsten Phantastik-Periodika entwickeln sollte.
Der nur wenige Jahre zurückliegende Krieg spielt in dieser ansonsten von Fabelwesen wimmelnde Story eine Rolle als Katalysator; eine Gefechtsverletzung schleudert Holger Carlsen in eine Parallelwelt, in der putzmunter ist, was sonst im Reich der Mythen existiert. Anderson vergleicht die Invasion der Nazis explizit mit dem Krieg, der sich in der „Mittelwelt“ anbahnt. Feen, Trolle, Riesen, Drachen u. a. Kreaturen der Nacht - das Sonnenlicht scheuen sie alle! - treten an die Stelle der Nazis und ihrer Verbündeten.
Held wider Willen, aber voller Kampfkraft
Holger Carlsen ist nicht der erste moderne Mensch, der sich überrascht in einer fantastisch aufgepolsterten Vergangenheit wiederfindet. Poul Anderson steht hier in der Tradition von Mark Twain (1835-1910), der 1889 die Satire „A Connecticut Yankee in King Arthur's Court“ (dt. „Ein Yankee am Hofe des Königs Artus“) veröffentlichte (was er an einer Stelle zitiert). Hier ließ Twain einen modernen US-Amerikaner geschäftstüchtig das mittelalterliche England rationalisieren; er übte damit ironisch Kritik an Kapitalismus und Industrialisierung.
Die phantastische Literatur griff auf den Kunstgriff der ‚Transition‘ gern zurück. So nutzte Lyon Sprague de Camp (1907-2000) die Konfrontation von Vergangenheit und Zukunft gern und mehrfach, so vor allem in seiner mit Fletcher Pratt (1897-1956) verfassten Serie um Harold Shea (fünf Bände zwischen 1940 und 1954), dessen Zeitreisen stets für chaotisches Durcheinander sorgte. Noch häufiger schickte Edgar Rice Burroughs (1875-1950) seinen Landsmann John Carter auf den Mars.
Poul Anderson setzt offenen (oder derben) Humor nur selten ein, übernimmt jedoch den leichten Ton de Camps. „Dreiherz“ soll unterhalten, aber nicht ernstgenommen werden. Von vornherein blendet Anderson jenen Bierernst aus, den andere Autoren gern bemühen, wenn sie Jetzt-Menschen in vergangene und/oder parallele Welten versetzen. Da schon der junge Anderson sein Metier beherrschte, schuf er ein Werk, das sicher nicht zu den Klassikern des Fantasy-Genres gehört, aber noch heute großes Lektürevergnügen generiert.
Wenn Legenden Wirklichkeit werden
Dass er auch ein SF-Autor ist, kann (oder will) Anderson nicht verbergen. Holger Carlsen macht sich mehrfach Gedanken darüber, wie sich die Phänomene dieses Wunderreiches mit den Naturgesetzen erklären lassen. Erstaunt erfahren wir, dass ihm das Modell des „Multiversums“ bekannt ist: Neben unserer Welt existieren unzählige Parallel-Universen, die sich mehr oder weniger von „Universum 1“ unterscheiden. Bereits in den 1950er Jahren beschäftigten entsprechende Theorien nicht nur Philosophen, sondern auch Physiker.
Anderson nutzte weiterhin sein schon in jungen Jahren immenses historisches Wissen. Vor allem kannte er sich in der skandinavisch-isländischen Vergangenheit aus, denn noch seine Eltern hatten in Nordeuropa gelebt; er war US-Amerikaner in erster Generation. Im Laufe seiner fünf Jahrzehnte währenden Karriere griff Anderson immer wieder auf die Geschichte und vor allem auf die Legenden seiner Vorfahren zurück, um daraus spannende Storys zu spinnen.
Während mit den Jahren sein Ehrgeiz wuchs und er immer enger an den Quellen blieb, ist „Dreiherz“ ein freies Spiel mit Mythen und Märchen. Was seinem Garn nützlich war, suchte sich Anderson aus diesem Sagenschatz heraus. Auf Logik legte er keinen Wert; er fühlte sich zu Recht nicht dazu verpflichtet und mischte Trolle und Einhörner, Feen und Werwölfe oder setzte Karl den Großen an die Seite von König Artur.
Worum es geht, wird sich ergeben
Der Plot ist simpel; er zeigt die Hauptfigur auf einer „Queste“, d. h. auf einer Mission bzw. Suche, die eine lange Reise und viele Gefahren beinhaltet. Zwar wird das Ziel irgendwann erreicht, was aber nicht unbedingt einen Höhepunkt darstellt. Hier kommt noch die ursprüngliche Veröffentlichungsform hinzu: Anderson musste Sorge dafür tragen, dass die Leser der „MFSF“-September-Ausgabe den Faden im Oktober problemlos aufnehmen konnten. Er durfte sie nicht vertrösten, sondern musste sie bei der Stange halten. Also bietet die Handlung quasi rhythmisch ‚Zwischen-Höhepunkte‘. Die zentrale Story wird dabei ausgesetzt, was streng beurteilt für Längen sorgt. Doch Anderson sorgt dafür, dass Episoden wie der Rätsel-Wettkampf mit einem Riesen oder die Jagd auf einen Werwolf trotzdem lesenswert sind.
Ihr Alter zeigt die Geschichte wie so oft, wenn Mann auf Frau trifft und sich verliebt. 1953 (und auch 1961) wurde dies zur Herausforderung, weil die Balz zumindest offiziell (und gedruckt) strengen Regeln zu folgen hatte. „Freie Liebe“ war etwas, das Anderson frivolen Feen zuschreiben, aber seinem Helden nicht gestatten konnte. Holger und Alianora sind daher verdammt zu vorehelicher Keuschheit, was zeitgenössisch für ‚ulkige‘ Episoden sorgt, wenn das Schwanenmädchen den Ritter bedrängt, der selbstverständlich standhaft bleiben ‚muss‘.
Das Tempo ist hoch, auch wenn Anderson sich Zeit für stimmungsvolle Landschaftsbeschreibungen nimmt und insgesamt eine Atmosphäre märchenhafter Unwirklichkeit heraufzubeschwören weiß. Das Ende ist abrupt, aber womöglich kommt einem dies nur so vor in einer Gegenwart, in der Fantasy schwerblütig, vielbändig und tausendseitig geworden ist. Holger Carlsen hätte zurückkehren können; Anderson selbst spricht es an, aber offenbar war die Resonanz der Leserschaft nicht enthusiastisch genug, um eine Fortsetzung in Gang zu setzen. „Dreiherz“ kann aber problemlos für sich bestehen - und sei es ‚nur‘ als Beleg dafür, dass Fantasy einst zügig und ökonomisch erzählt werden konnte!
Fazit:
Frühwerk eines Großmeisters der Phantastik, der hier eine Parallelwelt entwirft, in der die Mythen des europäischen Hochmittelalters sehr lebendig sind und eine kleine Schar höchst unterschiedlicher Hauptfiguren in abwechslungsreiche Abenteuer stürzt: alte, nie klassische, aber erfreulich lebendig gebliebene Fantasy.
Poul Anderson, Bastei-Lübbe
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