Mythisch und realistisch, gefühlvoll und geistreich
Guy Gavriel Kay gehört international nicht nur zu den erfolgreichsten Fantasy-Autoren, sondern auch zu den anerkanntesten. Während ihm im Ausland sogar das "klassische" Feuilleton Respekt zollt, ist sein Werk im deutschsprachigen Raum bis auf ein Buch nur antiquarisch zu haben. Völlig unverständlich, denn seine historisch-fantastischen Geschichten sind nicht nur für Fantasy-Fans, sondern auch für Liebhaber historischer Romane echte Leckerbissen. Kays jüngster Roman "Ysabel" wird in den USA, Kanada und Großbritannien sogar unter der Rubrik "Fiction" einsortiert, also ohne den vermeintlichen Kulturmakel "Fantasy".
Seiner Vorliebe für mediterrane Settings folgend, hat Kay "Ysabel" in der Südfrankreich angesiedelt. Dorthin, nach Aix-en-Provence, um genau zu sein, begleitet die Hauptfigur Ned Marriner seinen Vater zu einem Fotoshooting für einen Bildband über die alte Kulturlandschaft. Es ist kurz vor den Sommerferien und der 15jährige Kanadier genießt die verlängerte freie Zeit, die Knopfhörer seines iPods stets im Ohr. Doch die vorgezogene Leichtigkeit ist nur vordergründig, denn Ned und ist wie sein Vater in steter Sorge um seine Mutter, die in einem afrikanischen Kriegsgebiet für die Organisation "Ärzte ohne Grenzen" arbeitet. Während einer Fotosession seines Vaters an der Kathedrale Saint-Sauveur lernt Ned die ebenfalls 15jährige Kate kennen. Die gewitzte amerikanische Austauschschülerin weiß scheinbar alles über provenzalische Geschichte, was beiden später noch helfen wird.
Während die beiden Teenager während ihrer ersten Unterhaltung noch nicht so ganz wissen, was sie mit dem anderen anfangen sollen, wird ihre noch junge Bekanntschaft auf äußerst ungewöhnliche Weise gefestigt. Nachdem sie dem Ursprung eines seltsamen metallischen Geräuschs bis in die unheimlichen Tiefen der Kathedrale gefolgt sind, begegnen sie einem Mann, der irgendwie beunruhigend wirkt, so als ob er nicht die Gegenwart passen würde. Kate und Ned rätseln noch über das kuriose Zusammentreffen, als Ned eine tiefergehende Verbindung zu dem Mann verspürt - er kann dessen Anwesenheit mit einer Art sechsten Sinn erfassen und weiß plötzlich Dinge, die irgendwie mit der blutigen Geschichte der Umgebung zusammenhängen. Wie stark diese sinnlichen Wahrnehmungen sind, muss Ned erfahren, als er während einer Fahrt zu einer Fotolocation von einem unerträglichen Hämmern im Kopf und ekligem Blutgeschmack beinahe ohnmächtig wird. Kate findet später heraus, dass der Berg vor über 2000 Jahren Schauplatz eines wahren Massakers zwischen Kelten und Römern gewesen ist. Als Ned einen Anruf von seiner Tante, über die nie gesprochen wurde, erhält, ahnt er, dass er nicht nur in eine uralte mystische Fehde und Dreiecksbeziehung verwickelt ist, sondern dass sie Teil der eigenen Familiengeschichte sind.
Meisterhafte Prosa
"Ysabel" schließt den Geschichtenkreis, den Kay vor über 20 Jahren mit dem ersten Buch der Fionavar-Trilogie begann, in dem er junge Menschen aus unserer Gegenwart in eine mythische Parallelwelt übertreten lässt. Er integriert auf elegante und völlig glaubwürdige Weise sogar zwei der Hauptpersonen seines ersten Romanzyklus.
Kays Stärke liegt nicht nur in seiner evozierenden Prosa, mit der er die Sinnlichkeit und Geschichtsträchtigkeit der Provence meisterhaft beschreibt. Was den Roman aus der Masse abhebt, sind seine Charakterbeschreibungen und die einfühlsame Art, wie er das "Coming of Age" Neds mit wenigen Worten klar und nachvollziehbar erfasst. Der 15jährige verliert auf doppelte Weise die Reste seiner Unschuld: Durch das gleichzeitige Erwachen seiner Sexualität und übernatürlichen Fähigkeiten wird auf doppelte Weise vom Kind zum Mann - in Gegenwart und Vergangenheit gleichermaßen.
Mythisch und realistisch, gefühlvoll und geistreich: Mit "Ysabel" begeistert Guy Gavriel Kay nicht nur Freunde feinziselierter Fantasy, sondern öffnet auch die Buchdeckel für diejenigen Leser, die dieser Art von Literatur bislang vielleicht nichts abgewinnen konnten. Bereits jetzt eines der besten Bücher des Jahres 2007.
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