Der letzte Mensch
- Reclam
- Erschienen: Februar 2021
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Die erste Dystopie der Weltliteratur
Eine Sache hat man der aktuellen Ausnahmesituation zu verdanken: Auf einmal wird die Seuchenliteratur der letzten Jahrhunderte von den Verlagen wieder herausgekramt. Lebt man in einer Pandemie, möchte man eben auch entsprechend unterhalten werden – so anscheinend die Meinung der Verleger. Was die einen abschreckt, erfreut die anderen, denn auf diese Weise wurde ein kleiner Schatz wiederentdeckt, der lange unvergessen vor sich hinvegetieren musste. Mary Shelleys „Der letzte Mensch“ aus dem Jahre 1826 stand lange Zeit im Schatten ihres Meisterwerks „Frankenstein“. Auch ihre Zeitgenossen waren von ihrer Zukunftsvision des 21. Jahrhunderts und ihrer apokalyptischen Pest-Geschichte nicht besonders angetan. Und doch steckt mehr hinter Shelleys Text als nur eine Auseinandersetzung mit dem Untergang der Menschheit.
Im Zentrum steht Lionel Verney, ein Antiheld, wie er im Buche steht. Zunächst ein verbitterter junger Mann entwickelt er sich durch die Hilfe seines Freundes Adrian zu einem gebildeten Bürger. Lionel heiratet Adrians Schwester Idris, während Lionels Schwester Perdita den aufbrausenden Politiker Lord Raymond heiratet. Alles scheint zu schön, um wahr zu sein, doch dann wird die Gemeinschaft der Freunde auf eine harte Probe gestellt, als eine neuartige Form der Pest auftritt, die in beinahe jedem Fall tödlich endet.
Die Zukunft ist düster
Wer Mary Shelleys Biographie kennt, entdeckt beim Lesen schnell Parallelen zu ihrem Leben. In der verschworenen Gemeinschaft um Lionel verarbeitet sie ihre eigenen Freunde: Lord Raymond ist Lord Byron nachempfunden, Adrian entspricht Marys Ehemann Percy Bysshe Shelley und sie selbst findet in Lionel ihr Alter Ego. Viel Zeit verwendet Shelley deshalb auf die Darstellung und Etablierung dieses Freundeskreises, wodurch man sich erst einmal durch ein paar Irrungen und Wirrungen hindurchlesen muss, bis man zum eigentlichen Kern der Geschichte vordringt. Die Handlung zieht sich deshalb mitunter und kommt ziemlich schwülstig daher, trotzdem wird es auf beinahe jeder Seite sehr politisch und gesellschaftskritisch. „Der letzte Mensch“ steckt voller Anspielungen, revolutionärer Gedanken und thematisch dichter Passagen, und das so interessant verpackt, dass man über die Längen auch hinwegsehen kann.
Mit „Der letzte Mensch“ hat Shelley außerdem die erste Dystopie der Weltliteratur abgeliefert. Natürlich sollte man dabei nicht mit heutigen Maßstäben an die Sache herangehen, denn Shelleys Version des Jahres 2089 ist durch und durch geprägt von der Lebenswelt des 18. Jahrhunderts. Dass man sich in der Zukunft befindet, spürt man kaum, abgesehen davon, dass es Luftschiffe gibt und England eine Republik ist (was den Zeitgenossen Shelleys überhaupt nicht gefallen hat).
Vor der Pest sind alle gleich
Mittlerweile können wir ein Lied davon singen, was passiert, wenn eine Pandemie ausbricht. Von Leichenbergen auf den Straßen sind wir in Deutschland jedoch zum Glück meilenweit entfernt. Doch in Shelleys Version muss fast schon in „Game of Thrones“-Manier einer nach dem anderen sterben – bis (Titel und Ich-Erzähler legen es nahe) nur noch Lionel übrigbleibt. Isolationsmaßnahmen und Flucht kommen gegen die durchweg tödliche Pest nicht an. Keine wie auch immer geartete Staatsform noch die Wissenschaft können etwas gegen die Seuche unternehmen. Verheerend sind die Auswirkungen auf die Gesellschaft, die im Großen wie im Kleinen gezeigt werden. Lionels Kreis an Vertrauten und Freunden wird immer kleiner, wobei Shelley nicht zimperlich vorgeht: Es wird emotional, tragisch und herzzerreißend. So spannend das auch sein mag, sprachlich ist diese Geschichte nicht einfach zu verfolgen. Man sollte sich für die Lektüre Zeit nehmen und braucht ein gewisses Maß an Konzentration. Herausragend ist jedoch die Leistung der Übersetzerin Irina Philippi. Den sprachlichen Duktus der Zeit hat sie meisterlich getroffen, eine bessere Version kann man nicht wünschen.
Fazit:
Mary Shelleys „Der letzte Mensch“ beinhaltet so viele Themen, dass dieses Buch keineswegs nur als reine Pestliteratur angesehen werden sollte. So entwirft die Autorin nicht nur ein Weltuntergangsszenario, sondern verarbeitet auch ihre eigenen Verluste. Wer etwas Anspruchsvolles lesen möchte und in der heutigen Situation kein Problem mit dem Thema Seuche hat, sollte dieses Buch auf seine Leseliste setzen.
Mary Shelley, Reclam
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