In der Stickstoff-Klemme
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 1982
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Dasein auf einer lebensfeindlich gewordenen Erde
Einige tausend Jahre in der Zukunft ist die Atmosphäre der Erde aufgrund aus dem Ruder gelaufener Klima-Experimente ‚gekippt‘: Der Sauerstoff ist verschwunden, der Stickstoff beherrscht den Planeten. Sämtliche Tiere und die meisten Pflanzen sind ausgestorben. Gehalten haben sich wenige Menschen, die sich unter großen Opfern an die veränderten Verhältnisse angepasst haben.
Die einstige Hightech ist in Vergessenheit geraten. Man existiert mühsam in kleinen Städten, die man gegen die Außenluft isolieren und mit Sauerstoff fluten kann. Wächst die Bevölkerung zu stark, setzt man ‚überzählige‘ Kinder buchstäblich vor die Tür, wo sie meist sterben oder sich den „Nomaden“ anschließen, die durch die keineswegs verödete, aber für Sauerstoffatmer tödliche Landschaft ziehen und in den Ruinen der Vorzeit nach Brauchbarem suchen.
Earrin Fyn und Kahvi Mikkonen sichern sich ihren Lebensunterhalt als Fracht-Flößer. Gemeinsam mit der fünfjährigen Tochter Danna beliefern sie verschiedene Städte mit wertvollem Fundgut. Der riskante Job ist leichter geworden, seit sich ihnen das intelligente Fremdwesen Bones angeschlossen hat. Der wissbegierige Außerirdische versucht festzustellen, wie die Menschen die radikale Veränderung der Erdatmosphäre überstehen konnten.
Einige seiner Artgenossen streifen ebenfalls durch das Land. Sie erregen das Misstrauen der Städter. Eine Gruppe, die in den „Invasoren“ die Verantwortlichen für die „Stickstoff-Klemme“ sieht, fängt Bones und einen Artgenossen. Man will feststellen, wie man diese Wesen ausschalten kann. Earrin und Kahvi versuchen ihren fremden, aber freundlichen Begleiter zu retten - und geraten zwischen alle Fronten …
Alltag in einer plausibel verzerrten Welt
In der Science Fiction wird Wert auf die Darstellung fremder Welten gelegt. Das Genre ist schließlich deshalb entstanden, um „die Zukunft“ zu beschreiben, wie bizarr sie sich auch entwickeln möge. Dazu gilt es das aktuelle naturwissenschaftliche Wissen zu berücksichtigen, was allerdings oft einen wahren Amoklauf entsprechender ‚Fakten‘ zur Folge hat: Offenbar meint mancher Autor seinen Lesern die Hirne grillen zu müssen, um einschlägige Kenntnisse unter Beweis zu stellen.
Hal Clement alias Harry Clement Stubbs (1922-2003) schuf ein Gesamtwerk, in dem sich „Science“ und „Fiction“ harmonisch mischen. Wahrscheinlich lag es daran, dass er hauptberuflich (Chemie-) Lehrer war - offensichtlich ein guter, der es schaffte, Wissen im Rahmen einer spannenden Geschichte zu vermitteln. Dafür musste Clement nie Planeten verwüsten und Sonnen in Bewegung setzen. Er konzentrierte sich auf das ‚exemplarische Drama‘ und beschränkte es auf wenige Personen, die er in einem überschaubaren Rahmen agieren und für das große Ganze stehen ließ.
Hier sind es die Nomaden Earrin und Kahri, die zusammen mit Tochter Danna zu den Menschen gehören, die den Untergang der Zivilisation überlebt haben. Ihnen stellt Clement die „Hillers“ gegenüber, die in Städten leben und eine andere, reglementierte Form des Zusammenlebens kultiviert haben, was der Autor für jenen Konflikt nutzt, der die eigentliche Handlung in Gang setzt: Unzufriedene Jugendliche begehren gegen verkrustete Regeln auf, schießen dabei über das Ziel hinaus, gefährden sich und ihre Mitmenschen - dies freilich ohne bösen Willen. Clement interessierte sich nie für Stereotyp-Konflikte, und er setzte auf die Macht des Wissens und der Vernunft, weshalb Auseinandersetzungen sich in seinem Werk ohne Mord & Totschlag lösen lassen.
Du bist, was du atmest
Den Untergang bzw. Neubeginn der Menschheit fokussiert Clement auf einen kleinen Ausschnitt, dem er sich mit enormer Liebe zum Detail widmet. Der ‚Rest‘ der Welt findet nur selten und in kurzen Passagen Erwähnung. Damit legt sich der Verfasser auf ein bestimmtes Erzählschema fest: Wenige Figuren tragen die Handlung. Sie müssen ‚interessant‘ sein, damit dies gelingt.
Gern arbeiten Autoren die Apokalypse auf, indem sie Schlaglichter setzen und dabei auf viele, weitverstreute Schauplätze setzen. Auf diese Weise lassen sich nicht nur Episoden beliebig aneinanderreihen: Die Figuren können umrissartig bleiben, denn das Geschehen springt ohnehin bald wieder in einen anderen Weltwinkel. Dagegen ‚bleibt‘ Clement dort, wo er seine Geschichte beginnt.
Er geht ein zusätzliches Risiko ein, wenn er Personen in den Mittelpunkt stellt, die weder ‚Helden‘ noch ‚Superschurken‘, sondern einfach ‚nur‘ Menschen sind - Menschen, die sich ganz selbstverständlich in einer Welt behaupten können, die sich drastisch verändert hat. Nur ein Auslöser war nötig, um alles auf den Kopf zu stellen: Stickstoff ersetzte Sauerstoff. Damit wurde „freies“ Atmen unmöglich. Zwar kann man sich auf der Erdoberfläche bewegen, doch dafür bedarf es nicht nur eines Atemgeräts.
Normale Welt, nur alles ganz anders
Das Alltagsleben dreht sich um den flüchtigen, lebenswichtigen, aber nicht ungefährlichen Sauerstoff, der in seiner reinen Form hochexplosiv ist sowie als gefährliche Rauschdroge taugt. Clement stellt dies jedoch nicht als lähmende Dauerkrise, sondern als Lebensalltag dar: Es ist, wie es ist, in dieser Welt konnte der der findige Mensch sich behaupten!
Earrin und Kahvi sind keine ‚geborenen‘ Abenteurer oder Rebellen, sondern ganz gewöhnliche Zeitgenossen: schon ein wenig steif in den Knochen, weder gebildet noch besonders schlau, meist planlos und zum Glück von kämpferisch unerfahrenen Kontrahenten umgeben. Angetrieben werden sie primär von dem simplen Motiv, sich und vor allem ihrer Tochter das regelfreie Nomadenleben zu bewahren.
Clement-typisch stehen sie keiner wohlorganisierten Gruppe entschlossener Umstürzler gegenüber, sondern einigen rebellischen Jugendlichen, die nicht einmal untereinander einig sind. Die Gefahr liegt im Übereifer begründet: Voreilig werden die „Invasoren“ zu Weltfeinden erklärt und attackiert. Glücklicherweise sind Clements Außerirdische zwar stets exotisch, aber niemals feindselig. Ihre größte ‚Schwäche‘ ist die Neugier, das elementare Problem die Kommunikation sowie die daraus resultierenden Missverständnisse.
Alles Fremde ist … neugierig
Der amöbenhafte „Jäger“ („Needle“; 1949, dt. „Die Nadelsuche“), der ‚heißbütige‘ Sallman Ken („Iceworld“; 1951, dt. „Eiswelt“), der schwerkraftgestauchte Barlennan („Mission Gravity“; 1953, dt. „Unternehmen Schwerkraft“): Sie sind in die SF-Historie eingegangen, weil Hal Cement schon früh vom Klischee des glotzäugigen, auf Invasion und Frauenraub fixierten Außerirdischen abwich. Seine ETs wirken trotz ihrer bizarren Gestalten sympathisch, denn Clement stellt sie als Sucher dar, die nicht erobern, sondern erfahren wollen.
„Bones“ steht in dieser Tradition. Dabei achtet der Verfasser darauf, seine Erd-Fremdheit nicht in Vergessenheit geraten zu lassen: So frisst Bones scheinbar seine ‚Kinder‘, was jedoch die menschliche Fehlinterpretation eines für die Fremden normalen Verhaltens ist. Wieder einmal ist es ein aus Sprachlosigkeit geborenes Missverständnis, das den Konflikt schürt. Auch sonst kommt es immer wieder zu Momenten gegenseitiger Ratlosigkeit, die den in der SF oft überstrapazierten Zufall ersetzen: Clement sorgt für durch Tatsachen begründete Überraschungen und daraus resultierende Handlungssprünge.
Mit Gewalt wird hier keine Einigung erzielt bzw. erzwungen. Wer solche SF vorzieht, sollte „In der Stickstoff-Klemme“ meiden. Das Handlungstempo ist gemächlich, der Erklärbär-Faktor hoch, die Gewaltspanne schmal. Clement arbeitet nicht mit dem Quast, sondern setzt mit feinem Pinsel Erzählstrich neben Erzählstrich. In der Ruhe liegt die Kraft: Dieses alte Sprichwort findet seine Bestätigung. „In der Stickstoff-Klemme“ ist nicht altmodisch, sondern zeitlos in seiner eigenen, von Vernunft bestimmten Nische.
Fazit:
Einfallsreich extrapolierte Lebenspraxis und überzeugende Figuren sorgen für eine nie auf Action, sondern auf Fachkenntnis setzende Spannung, wobei Vorwissen nicht nötig ist, sondern vom Verfasser ereignisunterstützend eingearbeitet wird: ein SCIENCE-fiction-Roman jenseits genretypischer Klischees.
Hal Clement, Bastei-Lübbe
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