Unten am Fluss - Watership Down

  • Ullstein
  • Erschienen: Dezember 2018
  • 9
Unten am Fluss - Watership Down
Unten am Fluss - Watership Down
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Michael Drewniok
100°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJan 2019

Mitreißender Exodus im Kaninchen-Mikrokosmos

Das Leben ist gut im Sandleford-Gehege, gelegen in der englischen Grafschaft Berkshire unweit des Städtchens Newbury - jedenfalls aus der Sicht eines Feldkaninchens. Eine Schar dieser langohrigen Nager hat sich hier niedergelassen. Streng aber gütig und halbwegs gerecht wird sie angeführt vom Oberkaninchen Lord Eberesche. Ihm zur Seite stehen als Leibwache und Berater die Mitglieder der Owsla, des Kaninchen-Adels.

Der junge Hazel gilt als aussichtsreicher Kandidat für die Owsla. Seinem jüngeren Bruder Fiver wird dieser Aufstieg verwehrt bleiben. Er hat Visionen, die ihn in die Zukunft blicken lassen. Deshalb ‚weiß‘ Fifer, dass die Menschen über dem Sandleford-Gehege eine Siedlung errichten wollen. Er drängt zum Exodus in ein neues, abseits aller Störungen gelegenes Land, das ihm im Traum erschienen ist. Bei Lord Eberesche holt er sich zwar eine Abfuhr, aber er beeindruckt seinen Bruder sowie einige andere Kaninchen. Sogar der raubauzige Krieger Bigwig schließt sich den zehn Auswanderern an, die sich auf eine gefährliche Reise begeben.

Diese endet glücklich in Watership Down, einem Gelände am Fluss in der Grafschaft Hampshire. Die Kaninchen richten sich ein - und stehen vor einem Problem: Nur Böcke leben in Watership Down. Um ein richtiges Gehege zu gründen, müssen Häsinnen her. Die fände man im nicht sehr weit entfernten Efrafa-Gehege. Doch hier herrschen der tyrannische General Woundwort und seine ihm treu ergebenen Schergen, die niemanden ziehen lassen.

Die Kaninchen von Watership Down befreien in einer Nacht-und-Nebel-Aktion viele geknechtete Efrafa-Insassen und erregen Woundworts Zorn. Er stellt eine Streitmacht auf und plant einen Angriff auf Watership Down. Dort setz man der blanken Gewalt List und Einfallsreichtum entgegen, aber als der Krieg losbricht, sieht es so aus, als würden Woundworts Truppen den Sieg davontragen ...

Ökologische Revolution der Langohren

Es war einmal ... ein englischer Familienvater in den beginnenden mittleren Jahren, der in Oxford die brotlosen Künste Literatur und Geschichte studiert hatte und daher froh sein durfte, später als Angestellter im Amt für Umweltschutz untergekommen zu sein. Auf vielen öden Dienstfahrten dachte er sich für seine beiden Töchter Geschichten über schlaue Kaninchen aus, die er ihnen erzählte, wenn er mit der Familie an den Wochenenden in ein Ferienhaus in den Hügeln von Hamphire fuhr.

Diese Geschichten waren so gut, dass die Töchter, als sie älter wurden, den Vater drängten, doch niederzuschreiben, was sonst verloren wäre. Im Sommer des Jahres 1966 folgte Richard Adams, damals 46-jährig, ihrem Wunsch. Zweieinhalb Jahre schrieb er, ohne sich beirren oder beeinflussen zu lassen, und schuf einen Klassiker der Literaturgeschichte. Davon ahnte er allerdings nichts, als er 1969 versuchte, einen Verlag für seinen Erstling zu begeistern. Doch überall winkte man ab: Zu komplex, zu ausladend habe Adams eine Geschichte erzählt, für die hauptsächlich Kinder und Jugendliche die Zielgruppe zu sein schienen, welche ja bekanntlich lieb und dumm sind und vor der bösen Wirklichkeit beschützt werden müssen. Nur der kleine Verlag Rex Collings griff 1970 eher halb entschlossen zu und brachte das Werk zwei Jahre später in kleiner Auflage heraus, ohne zu ahnen, welches Bestseller-Gold man da geborgen hatte.

Dies waren die Jahre von Flower-Power, der Rebellion gegen das Establishment, der kollektiven Selbstfindung und kosmischen Bewusstseinserweiterung, Jetzt setzten „Der Herr der Ringe“ zum Triumphzug und die hochnotpeinliche Möwe Jonathan zu ihrem Höhenflug an, während über die Kino-Leinwände Filme wie „Easy Rider“ oder „2001 - Odyssee im Weltraum“ flimmerten. In dieser Welt wurde auch eine Schar (oder besser ein Kollektiv) entwurzelter Kaninchen, die sich - Moses und den Israeliten folgend - auf die Suche nach einer besseren, weil von der Zivilisation noch nicht angekränkelten Welt begaben, mit offenen Armen (und Börsen) empfangen.

Kaninchen erobern die Welt

Wobei diese sehr amerikanische Züge trug. In der neuen Welt mischte sich schon früh leicht angegrüntes Gedankengut mit gesundem Geschäftssinn. „Watership Down“ ging in Rekordzeit mehr als eine Million Mal über die Ladentische. Dies sei keine Kindergeschichte über Kaninchen, verkündeten die Werbestrategen von „Penguin Books“, sondern eine epische Parabel über Dinge, die zählen im Leben. Da konnten auch die Erwachsenen guten Gewissens zugreifen. Die Belohnung blieb nicht aus: 1985 hatten die Pinguine fünf Millionen Bände an den Mann und die Frau gebracht. „Watership Down“ war (nach „Farm der Tiere“ von George Orwell) der am meisten verkaufte Titel in der Geschichte dieses nicht gerade kleinen Verlagshauses; selbst die „Canterbury Tales“ oder Homers „Odyssee“ mussten sich den Langohren geschlagen geben.

Richard Adams wurde berühmt und so reich, dass er das heimische Hampshire verließ und auf die Insel Man umsiedelte, wo der Würgegriff des Finanzamtes sich ein wenig lockerer um seinen Hals schlang. Der Siegeszug der „Watership Down“-Kaninchen war nicht mehr aufzuhalten. Ihre Abenteuer gibt es inzwischen als Film, Hörspiel, Musical, Theaterstück (!) und TV-Serie. Erstaunlicherweise hat sich sogar das Buch in der Gunst des Publikums halten können. Seit mehr als Jahrzehnten wird es kontinuierlich nachgedruckt. Weltweit liegt die Auflage weit jenseits der 50-Mio.-Grenze.

Trotzdem werden wir Deutschen wohl niemals wirklich begreifen, welchen Nerv Adams bei seinen Landsleuten und bei den amerikanischen Rebellen traf. Allein die Internet-Suchmaschine “Google” listet unter dem Suchbegriff „Watership Down“ mehr als 1 Million Einträge auf. Darunter sind unzählige Websites, die einen regelrechten Kult um das Buch und seinen Verfasser treiben. Dieser profitiert von der Tatsache, dass Adams seine Kaninchen ihre Abenteuer in einer realen Landschaft erleben ließ. Er siedelte sie auf den Hügeln und Feldern seiner Jugend an, wo sich jeder Ort, der im Roman genannt wird, gut wiederfinden lässt. So etwas steigert den Identifikationsfaktor. Die Bewohner des Grenzlandes zwischen den Grafschaften Berkshire und Hampshire sind „Watership-Down“-Pilger seit vielen Jahren gewöhnt.

Zeitlos statt altmodisch

Noch gar nicht berücksichtigt haben wir bisher die Frage, ob denn die Geschichte „Watership Down“ dem gleichnamigen Mythos gerecht werden kann. Um es kurz zu machen: Richard Adams ist mit Talent und Können eine Saga gelungen, die auch ohne den Medienrummel noch viele Jahre bestehen wird. Fabelähnliche Tier-Fantasy hatte es schon vor „Watership Down“ gegeben; in England wohl die berühmteste ist wahrscheinlich „The Wind in the Willows“ von Kenneth Grahame (1908, dt. „Der Wind in den Weiden“).

Das Geheimnis hinter dem Erfolg ist eigentlich keines: Sowohl Grahame als auch Adams haben ihre Werke ohne Schere im Kopf geschrieben. Beide verfassten keine erbaulichen, belehrenden, verlogenen Kinderbücher, sondern gaben ihr Bestes, um eine Geschichte zu erzählen, die vor allem spannend und mitreißend ist - für Leser jegliches Alters. Sie nahmen ihre Leser ernst; das ist die Quelle, der ewige Klassiker entspringen! Deshalb gibt es auch keine Irritationen, kein verstecktes Grinsen darüber, dass ausgerechnet Kaninchen - knopfäugige, eistütenohrige Wollsocken, die sich mit der Eleganz eines Plumpsacks bewegen - in die Kulissen einer Saga biblischen Ausmaßes gesetzt werden. Sie spielen ihre Rollen großartig, aber das ist kein Wunder bei diesem Drehbuch. Adams entwickelt seinen Nagern eine eigene Welt, die geschickt menschliche Vorbilder aufgreift, ohne gleichzeitig ihre Bewohner allzu sehr zu vermenschlichen; ein Kardinalfehler der Tierfantasy, wobei es die Disney-Studios am übelsten treiben.

Die Kaninchen von Watership Down sind nicht niedlich oder tapfer oder herzensgute pelzige Freunde, sondern eine Schar recht handfester Gesellen, die mit allen vier Pfoten fest auf der Erde (oder darunter) stehen. Das ist gut so, denn die Welt, in der sie leben, ist alles andere als ein Paradies. Die Natur hat es so eingerichtet, dass Kaninchen gut schmecken, von allen Fleischfressern gejagt werden und sich tüchtig vermehren müssen, um die ständigen Verluste auszugleichen. Wären diese Nager mit Verstand ausgestattet, könnte man sie sich sehr gut so vorstellen, wie Adams sie uns vorstellt: pragmatisch und nicht zu Sentimentalitäten neigend.

Pflanzenfresser mit Kultur

Gleichzeitig sind sie keine wilde Horde, sondern ein Volk mit Kultur und Geschichte. Aus leicht nachvollziehbaren Gründen führen sie keine schriftlichen Aufzeichnungen. Die Vergangenheit wird wieder und wieder erzählt, wenn man des Nachts oder an verregneten Tagen im tiefen Bau zusammenhockt. Das hat ihr sagenhaft Gestalt verliehen und mischt sich mit religiösen Motiven.

Wie fromm könnte man sich Kaninchen vorstellen? Auch da gäbe es reichlich Raum für schreckliche Fehlgriffe, zu denen besonders New-Age-benebelte Autoren neigen, die jedes Lebewesen, das kein Mensch ist, automatisch zum Lieblingskind von Mutter Natur erklären. Meistens sind dann auch noch Gottheiten oder Geister im Spiel, die unseren Tierhelden ökologisch korrekte Weisheiten einflüstern (bzw. mit dem Holzhammer einprügeln), die natürlich auf das menschliche Publikum zielen.

Adams meidet solchen verquasten Unsinn; das Pantheon seiner Kaninchen-Götter ist recht aufgeräumt. Frith, der Schöpfer, hilft primär dem, der sich selbst auf die Keulen setzt, und lässt seine viel geprüften Kinder (und die Leser) ansonsten weitgehend in Ruhe. Stattdessen halten sich unsere Nager lieber an das Vorbild des gewitzten Kaninchen-Eulenspiegels El-ahrairah, der wesentlich liebenswerter geraten ist als jeder neunmalkluge Naturgeist, und dessen Eskapaden der Leser gemeinsam mit den Langohren von Watership Down mit Vergnügen Revue passieren lässt.

Alles hat seine Zeit

So bleibt „Watership Down“ noch heute und zukünftig ein Beispiel für unterhaltsame Erzählkunst auf hohem Niveau. Dieses konnte Richard Adams nach 1972 kontinuierlich steigern; zu seinem Ärger nahmen weder Publikum noch Kritik die Romane, die er seither schrieb, nur annähernd so begeistert auf wie seinen Erstling. Dabei beweisen mindestens „Shardik“ (1974, dt. „Shardik“) und „The Plague Dogs“ (1977, dt. „Die Hunde des Schwarzen Todes“), dass Adams definitiv nicht der Hobby-Autor ist, dem zufällig der große Wurf gelang, sondern ein Schriftsteller von Format.

Richard Adams selbst ist mit („Tales from Watership Down“) (dt. „Neues vom Watership Down“) 1996 noch einmal in die Welt von Hazel, Fiver & Co. zurück, doch scheint er dafür nur einige Kapitel, Skizzen und El-ahrairah-Schelmereien, die es nicht in das Hauptwerk geschafft hatten, recht willkürlich und eher lieblos zusammengestellt zu haben; eine Fortsetzung ist dies jedenfalls nicht, und ein echter Lese-Spaß auch nicht.

Löffel im (Film-) Wind

Bereits 1978 wurde „Watership Down“ verfilmt: als Zeichentrickfilm, denn mit echten Kaninchen war diese Geschichte nicht umzusetzen. Martin Rosens Version leidet unter dem beschränkten Budget, gewinnt aber andererseits durch den Verzicht auf Disney-Süßlichkeiten und war trotz diverser, oft beträchtlicher Veränderungen der Vorlage an den Kinokassen durchaus erfolgreich. (Zum Ohr- bzw. Hirnwurm entwickelte sich „Bright Eyes“, der von Art Garfunkel gesungene, schaurig-schöne, schnulzige Titelsong.)

Nicht als Regisseur, sondern als Produzent zeichnete Rosen für eine 13-teilige „Watership-Down“-Fernsehserie verantwortlich, die zwischen 1999 und 2001 entstand. Sie richtete sich an ein junges Publikum, weshalb die Vorlage ‚entschärft‘ wurde.

Wie der zeitgleich entstandene Film „Peter Hase“ nutzten BBC und Netflix für ihren 2018 gestarteten „Watership-Down“-Relaunch die Möglichkeiten der modernen = digitalen Tricktechnik. Das Ergebnis überzeugte nur bedingt, zumal die Produzenten der Story jegliche Düsternis austrieben, um ein möglichst junges bzw. kopfstarkes Publikum zu erreichen. Zumindest in der Originalversion wurde dies durch ausgezeichnete Sprecher - z. B. Ben Kingsley - ausgeglichen. (Dazu gab es ein zwar neues, jedoch ebenfalls grausiges Titellied - „Fire on Fire“; dieses Mal verbrach es Sam Smith.)

Unten am Fluss - Watership Down

Richard Adams, Ullstein

Unten am Fluss - Watership Down

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