Sieben bohrende Beispiele für das menschliche Böse
Zwar geht es in einigen der hier gesammelten Geschichten tatsächlich übernatürlich um, doch im Vordergrund steht jenes Grauen, das in dieser Intensität nur der Mensch heraufbeschwören kann:
- Zena (Ashputtle; 1994), S. 11-31: Die unscheinbare Zena tarnt sich als selbstlose Kinderschwester, wodurch sie ihren unbändigen Menschenhass an denen auslassen kann, die wehrlos sind.
- „Isn't It Romantic?“ (Isn't It Romantic?; 1998), S. 32-88: Ein alternder Agent will in Frankreich seine Auftraggeber täuschen und töten, noch einmal groß absahnen und dann untertauchen, doch die Liebe wird zu seinem blinden Punkt und Verderben.
- Das Dorf der Geister (The Ghost Village; 1992), S. 89-129: Ohnehin überforderte US-Soldaten geraten während des Vietnamkriegs in das verfluchte Dorf Bong To; was sie dort erleben, summiert sich zu ihren Erfahrungen, die sie bis an ihr Lebensende zeichnen oder sogar umbringen werden.
- Der Schatten der blauen Rose (Bunny Is Good Bread; 1994), S. 130-199: Sein ganzes Leben ist ein Kampf mit den Erinnerungen an eine Kindheit, die nicht nur von menschlicher Kälte, sondern auch von einem Kinderschänder geprägt wurde, gegen den er sich ganz allein wehren musste.
- Porkpie Hat (Porkpie Hat; 1994), S. 200-276: Hat war ein genialer Jazz-Musiker, doch sein Leben im von der Rassentrennung geteilten US-Süden war hart und wurde von den Erinnerungen an ein dort erlebtes Grauen überschattet, das ihn in den Suff, dann in den Wahnsinn und schließlich in den Tod trieb.
- Hunger. Eine Einführung (Hunger, an Introduction; 1995), S. 277-318: Frank Wardwell, ein unglücklicher, auf Gott und die Welt wütender Mann, stellt nach seinem Tod fest, dass sich sein nie gestillter Hunger auf ein besseres Leben verselbstständigt hat.
- Knüppel aus dem Sack (Mr. Clubb and Mr. Cuff; 1998), S. 319-431: Man kann sie anheuern, wenn man unliebsame Mitmenschen loswerden möchte, doch Vorsicht: Sie nehmen diese Aufträge bitterernst, und wer sie zurückpfeifen will, verfällt ihrem Zorn und wird selbst zum Opfer brutalster Demütigungen und Körperstrafen.
- Quellenhinweis, S. 432
Das größte Ungeheuer
Er hat gemeinsam mit Stephen King zwei Horrorromane geschrieben und sich inhaltlich wie stilistisch so geschickt mit seinem Partner arrangiert, dass sich „Der Talisman“ (1984) und „Das schwarze Haus“ (2001) wie aus einem Guss lesen. Solo verfasste Peter Straub (1943-2022) diverse Romane, die sich stark an King zu orientieren und sich jedenfalls mit dessen besten Werken messen können (u. a. „Geisterstunde“, 1979; „Schattenland“, 1980; „Der Hauch des Drachen“, 1982). Darüber hinaus schuf Straub Romane, Novellen und Kurzgeschichten, die einen völlig eigenständigen, überaus prägenden Meister des modernen (US-amerikanischen) Horrors zeigen.
Wie King geht Straub von der Prämisse aus, dass es nicht unbedingt magischer, untoter, übernatürlicher Gestalten bedarf, um Menschen ins Unglück stürzen. King ist berühmt für sein Talent, ‚normale‘ Mitmenschen in Situationen geraten zu lassen, in denen sie sämtlichen Halt verlieren und charakterlich auf die Probe gestellt werden. Straub beginnt in der Regel bereits einen Schritt später. Zwar stellt uns auch King Figuren mit furchtbaren Erlebnissen und Erfahrungen vor, doch Straub ist in dieser Hinsicht unerbittlicher: Wir müssen oder sollen nicht mit seinen Protagonisten sympathisieren, denn diese bewegen sich nicht selten längst jenseits von Recht und Anstand, bevor die Handlung einsetzt.
Dass sie das Leben und vor allem die Gesellschaft in diese Lage gebracht hat, ist für Straub eine Erklärung, aber nie eine Entschuldigung. Dem Bösen gibt er zwar manchmal klassische Gestalten („Das Dorf der Geister“, „Hunger. Eine Einführung“), doch selbst dann muss es gegen jenen Schrecken antreten, den der Mensch sich für seinesgleichen reserviert hat. Mit makabrer Intensität bringt es Straub auf den Punkt: Hier muss jedes Gespenst, jedes Phantom die Waffen strecken. Nach eigener Auskunft arbeitete der Autor sich an einem Kindheitstrauma ab: Bei einem Unfall wurde der junge Straub schwer verletzt, musste wiederbelebt werden und viele Monate in seinem Krankenbett verbringen. (Tragischerweise starb er an den Folgen einer ebenfalls unfallverursachten Hüftfraktur, die ihn lange quälte und seiner Schriftstellerkarriere ein vorzeitiges Ende setzte.)
Hinter der Maske
Man kann dem Menschen nicht hinter die Stirn schauen, lautet ein altes Sprichwort, das zur seltenen Abwechslung eine zwar banale, aber dennoch brisante Wahrheit widerspiegelt. Hinter glatten, gut geschnitzten Masken lauert oft ein Schrecken, der dank dieser Tarnung unerkannt dort eindringen kann, wo sein Wirken nachhaltig für Schaden sorgt. „Zena“ ist dafür das perfekte Beispiel. „Aschenputtel“ lautet der Originaltitel, aber Straub versagt seiner ‚Heldin‘ die märchenhafte Erlösung. Zena fristet von ihren Mitmenschen unbeachtet eine öde Unterschichten-Existenz. Sie hat sich einerseits damit abgefunden und andererseits ein Ventil als begnadete Peinigerin geschockter Kinder entdeckt, die nun unter ihrer Frustration leiden müssen.
Gefühle sorgen für Schwachpunkte. Sie werden gnadenlos von denen ausgenutzt, die diese erkennen. So ergeht es dem Agenten in „Isn't It Romantic?“, dessen letzten Coup Straub als kompetente Handlungskette eines Mannes beschreibt, der ebenso beherrscht wie professionell vorgeht - und doch elend und quasi nebenbei zu Tode kommt, weil er nur einmal seine Kontrolle schleifen lässt. Noch deprimierender ist das Schicksal des ebenso mitleiderregenden wie widerwärtigen Mr. Wardwell („Hunger. Eine Einführung“), dessen emotionale Bedürfnisse im Leben vernachlässigt und selbst im Tod nicht gestillt werden. Verdammt dazu, niemals ‚satt‘ zu werden, beobachten nun er und andere Geister/Leidensgenossen (noch) lebende Menschen, die ihren Bedürfnissen nachgeben, so bizarr diese sein mögen.
Auf seine Mitmenschen verlasse man sich ohnehin besser nicht! Selbst bzw. gerade die Familie ist kein Hort des Trostes und der Sicherheit. Selten wird dies so (trotz des deutschen Unsinn-Titels) gnadenlos bloßgestellt wie in „Der Schatten der blauen Rose“. Straub schreckt nicht davor zurück, die Einsamkeit des kindlichen Erzählers durch die eklige Brutalität des Missbrauchs auf die Spitze zu treiben. Das ‚Happy-End“ beschränkt sich auf die Tatsache, dass der Junge seinen Peiniger vertreiben kann. Dies muss er jedoch auf sich allein gestellt bewältigen.
Der Overkill des Schreckens
Einen wahren Mühlstein des Grauens, der unerbittlich jede Regung von Mitgefühl, jeden Versuch positiven Gegensteuerns und jegliche Hoffnung auf Erlösung zerreibt, setzt Straub in „Das Dorf der Geister“ und „Porkpie Hat“ in Gang. Die jungen Soldaten und der junge Hat sind bereits vom Leben gezeichnet, bevor sie mit einem Grauen konfrontiert werden, das sie zukünftig umtreiben, sich jedoch als Glied in eine Kette früherer und späterer Schrecken und Demütigungen einreihen wird. Das Gehirn ist ein Sender, der den Horror immer wieder und buchstäblich lebensnah ‚abspielt‘. (Erstaunlicherweise war Straub, der nicht nur hier den Schrecken des Vietnamkriegs so eindringlich in Worte fasst, niemals selbst Soldat. Immerhin galt er als Experte für alte, oft obskure Jazzmusik.)
Gönnt Straub seinen Protagonisten doch einen Ausweg, schickt er sie zuvor durch die Hölle. „Knüppel aus dem Sack“ ist die ebenso fesselnde wie böse Geschichte einer Läuterung der besonderen Art. „Mr. Clubb“ („Herr Knüppler“) und „Mr. Cuff“ („Herr Würger“) verwandeln sich unter Straubs Feder in unvergleichlich gruselige Gestalten. Über ihre (möglicherweise übernatürliche) Herkunft lässt uns der Autor völlig im Dunkeln. Er beschränkt sich auf die Beschreibung ihres Tuns, das sich mit den einander widersprechenden Begriffen „lehrreicher Terror“ beschreiben lässt. Sie wenden sich nicht einfach gegen ihre Auftraggeber, sondern konfrontieren diese mit dem Grauen, vor dem diese letztlich zurückschreckten. In der so heimgesuchten Hauptfigur sorgen sie für einen radikalen Lebenswandel, der diese zu einem moralisch ‚besseren‘ Menschen macht. Straub wäre jedoch nicht Straub, würde er uns die Folgen - Verstümmelung, geistiger Zusammenbruch, Verlust jeglichen Selbstwertgefühls - vorenthalten.
Fazit:
Sieben meist längere Erzählungen konfrontieren uns mit menschlich verursachten Schrecken - dies meisterhaft, aber mit einer oft Unbehagen provozierenden Intensität, denn der Autor dringt dorthin vor, wo es nicht splatter-lustig zugeht, sondern richtig wehtut: wortgewaltig beschrieben, unglaublich dicht, dazu gern mit einem bitterbösen Unterton versehener ‚Echt-Horror‘.
Peter Straub, Heyne
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