Schattenland

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1983
  • 2
Schattenland
Schattenland
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Michael Drewniok
100°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2021

Realitätsverwirbelnder Magier-Krieg

Nach einer der brutalen Schlachten des Ersten Weltkriegs gibt der junge Arzt Charles Nightingale einem tödlich verletzten Kameraden den Gnadenschuss. Doch der war ein mit echter Zauberkraft ausgestatteter Magier. Seine Kraft geht auf Nightingale über, der erst entsetzt, dann fasziniert seine neuen Fähigkeiten auslotet, desertiert und sich als „Coleman Collins“ eine Existenz als Bühnenmagier aufbaut.

Parallel dazu hat Nightingale/Collins nun Zugang zum „Schattenland“, einem ‚neben‘ der Realität existierenden Reich, in dem die Magie die Geschicke seiner oft seltsamen oder furchterregenden Bewohner bestimmt. Ihm gelingt es sogar, sich den Eulenthron zu sichern, auf dem nur der stärkste Zauberer sitzen und herrschen darf.

Doch die Zeit verschont auch den mächtigen Collins nicht. Er wird alt, und seine Kraft beginnt zu schwinden. Allerdings gedenkt er keineswegs abzudanken. Im Jahre 1958 hat Collins herausgefunden, wer ihm den Thron streitig machen könnte: Da ist sein Neffe Del Nightingale, der seine Zaubermacht gerade zu entdecken beginnt. Aber Collins fürchtet eher Tom Flanagan, der gefährlich werden könnte, weil er sich anders als der ängstliche Del nicht beugen oder gar brechen lässt.

Del und Tom sind Freunde, die auf einer pseudo-elitären Schule bitterlich unter sadistischen Lehrern und dem soziopathischen ‚Mitschüler‘ Steve „Gerippe“ Ridpath leiden und sich in die (scheinbare) Bühnenzauberei flüchten. Collins lädt sie zu sich in seine abgelegene Villa in Vermont ein. Angeblich möchte er die beiden Freunde in die ‚richtige‘ Magie einführen. Tatsächlich will er seine potenziellen Nachfolger ausschalten und jagt sie durch eine Hölle zunehmend lebensgefährlicher Prüfungen, wobei sich die Realität und die bizarren Illusionen des Schattenlandes zu verwischen beginnen …

Jenseits von Geisterbahn und Genlabor

Zwischen 1979 und 1983 erwuchs dem Phantastik-Platzhirsch Stephen King ein echter Konkurrent: Peter Straub veröffentlichte die Romane „Ghost Story“ (dt. „Geisterstunde“), „Shadowland“ (dt. „Schattenland“) und „Dragonflow“ (dt. „Der Hauch des Drachen“), bevor er sich 1984 mit Stephen King zusammentat, um das ebenfalls großartige Garn „The Talisman“ (dt. „Der Talisman“) zu verfassen. Anschließend richtete Straub seinen Fokus neu aus und schrieb einige grandiose Thriller, Später kehrte er zur Phantastik zurück, doch er erreichte nie wieder die Intensität der genannten Romane.

„Schattenland“ ist ein Meisterwerk, das viele Jahrzehnte nach seiner Erstveröffentlichung nichts von seiner Wirkungskraft verloren hat. 1980 war die Kombination von ‚echter‘ Literatur und ‚modernem‘ Horror noch neu. Ein Jahrzehnt hochwertigen King-Horrors sowie eine Serie gruseliger Hollywood-Blockbuster hatten jedoch einer Neubewertung des Genres den Boden bereitet. Aus einem Markt für angeblich geistig Arme wurde ein Spielfeld, auf dem verstärkt echte schriftstellerische Talente Unterhaltungs-Maßstäbe setzten.

Generell gab es schon früher einen Horror, der nicht durch vordergründige Buh!-Effekte für ‚Spannung‘ sorgt, sondern durch subtile Unterschwellig- und Doppeldeutigkeit jenen Schrecken bedient, den der Verlust vernunftverankerter Sicherheiten erzeugt. In dieser Tradition, aber ansonsten stets modern ist „Schattenland“ ein fabelhaftes Vexierspiel, in dem sich Realität und Illusion immer wieder mischen. Die Übergänge sind fließend; auch die Zeit wird ausgehebelt, weshalb man sich lesend bezüglich der oft buchstäblich ‚erzählten‘, d. h. inhaltlich und stilistisch kodierten ‚Wahrheit‘ zwischen den Zeilen ebenso unsicher ist wie die Freunde Del und Tom.

Die Schule als Hölle auf Erden

Die plausible Darstellung von Gefühlen ist eine komplexe Herausforderung. Viel zu oft beschränkt sie sich im Phantastik-Genre auf die platte Heraufbeschwörung einschlägiger Emotionen: Todesangst, Schmerz, Hass etc., wobei sich heutzutage der Fokus gern und oft auf die Zubereitung buchstäblicher Schlachtplatten verengt. ‚Echte‘ Gefühle wecken dagegen den Verdacht, die Lektüre könnte ‚literarisch‘ werden - eine Sorge, die durchaus berechtigt ist, da das Pendel auch in die andere Richtung ausschlagen und eine gute Geschichte in stilvollem Gefühlsdusel ertränken kann.

Straub gelingt der Drahtseilakt, doch „Schattenland“ fordert seine Leser dennoch heraus. Die Handlung folgt nur bedingt einer Chronologie; erst nach und nach entsteht das Verständnis für den eigentlichen Plot. Dies sollte nicht abschrecken, denn es ist Teil eines Konzepts, das den Faktor „Unsicherheit“ in den Mittelpunkt stellt. Tom und Del benötigen lange, bis sie begreifen, in welchem Spinnennetz sie zeit ihres Lebens gefangen waren. Im Zentrum lauert Coleman Collins, der sich als Retter und Mentor gibt, während er tatsächlich der Motor eines Grauens ist, das seine Opfer beinahe schon tötet, bevor sie ins „Schattenland“ - sein Heim und gleichzeitig das Zentrum seines Reiches - eingeladen werden.

Die Carson-Schule ist ohne ihre übernatürlichen Schattenwinkel gruselig genug. Straub kann es lange damit bewenden lassen, den Alltag einer Institution zu beschreiben, die den späteren Lebenserfolg als Ergebnis dauerhaften Terrors definiert; dies auch deshalb, um die eigenen Unzulänglichkeiten zu bemänteln. Drill statt Lehre, Unterwerfung, sadistisch ausgelebte Ungerechtigkeit: Straub zeigt uns eine Hölle auf Erden, die angepasste Mitläufer oder gebrochene Seelen in die Welt entlässt; einige Ex-Schüler von Carson treten in der Jahre später spielenden Rahmenhandlung noch einmal auf.

Grauen tarnt sich als Verlockung

Mit Del Nightingale und Tom Flannagan kristallisieren sich allmählich die beiden Hauptfiguren heraus, wobei sich die Gewichtung von Del auf Tom verschiebt. Beide sind sie Opfer, doch Tom findet jene innere Stärke in sich, die sich später mit seinen magischen Fähigkeiten verbindet. Genau diese Mischung fürchtet Collins, der die Gewalt, die er seinen ahnungslosen Herausforderern antut, lange mit diabolischem Geschick als ein Angebot tarnt, das die beiden Jungen nicht ablehnen können.

Sie haben sich eine Nische als ‚Zauberer‘ geschaffen, beginnen zu ahnen, dass dahinter mehr als die Illusion steckt, und können deshalb nicht widerstehen, als Collins ihnen anbietet, sie in der Magie zu unterweisen. So lockt er sie nach „Schattenland“, wo er die Falle zuschnappen lässt. Collins ist ein Meister der Manipulation. Er hetzt die Freunde gegeneinander auf und schwächt dadurch ihre Widerstandskraft. Erst sachte und spielerisch, dann ernsthafter und immer brutaler wird die ‚Schulung‘, bis Collins die Maske endlich fallen lässt - dies auch deshalb, weil der durch Carson an Erfahrung gereifte Tom ihn anders als der naive Del durchschaut hat und die Flucht aus „Schattenland“ plant.

Als Collins dies verhindert, geht Tom zum offenen Widerstand über. Obwohl sein Gegner über jahrzehntelange Erfahrung im Umgang mit der Macht verfügt, ist Tom in der Tat der Kronprinz des „Schattenlands“. Buchstäblich unter Schmerzen muss er in Windeseile lernen zu überleben und zu siegen. Dieser Kampf verlässt endgültig das von Naturgesetzen geprägte Diesseits und verlagert sich in eine Sphäre, in der alles möglich ist - im Guten wie im Bösen, wobei Straub ambivalent bleibt: Das „Schattenland“ ist eine ebenso faszinierende wie schreckliche Welt. Hier gibt es keine Stabilität, alles ist im Fluss, wobei dieser durch Magie verändert werden kann. Dazu passt ein Erzähler, der in einer Rahmenhandlung selbst aktiv wird sowie viele der Protagonisten kennt, aber anonym bzw. namenlos bleibt, sodass man sich fragt, wieso er so energisch über das „Schattenland“-Rätsel recherchiert.

Das Problem der Realität

Der Autor findet Figuren, Bilder und Stimmungen, die das „Schattenland“ eindrucksvoll zum Leben erwecken. Der „Einnehmer“, Mr. Peet und die „Trolle“, „Gerippe“ Ridpath, der bösartig verrückte Rektor Broome, der unglaubliche Herbie Butter, die tragisch an ihr Schicksal gekettete Rose: Sie und andere bleiben im Gedächtnis, wenn Straub ihre Geschichten episch, aber jederzeit dicht und mehrbodig einem fulminanten Finale entgegentreibt - und die Story einen Haken schlagen lässt, der den erwarteten Ausgang Lügen straft.

Straub wurde für „Schattenland“ vom englischen Dichter John Fowles (1926-2005) und dessen Roman „The Magus“ (1965/77, dt. „Der Magus“) inspiriert. Dort wie hier geht es um die Frage, wie objektiv eigentlich ist, was wir „Realität“ nennen. Kann der Mensch überhaupt die ‚echte‘ Realität in ihrer Gesamtausprägung erfassen, oder sind wir auf jenen Ausschnitt beschränkt, den unser Gehirn meistert? Straub entwickelt eine interessante, spannende Variante der daraus resultierenden Konsequenzen.

Fazit:

Großartige „Dark Fiction“ und eine „Coming-of-Age“-Story, in der Wunder und Schrecken sich rasant abwechseln. Straub findet jenen Ton, der eine an sich absurde Geschichte ‚wahr‘ wirken lässt. Die auf mehreren Verständnisebenen ablaufende Handlung ist auch stilistisch ein Meisterwerk und rundet einen modernen Klassiker der Phantastik ab.

Schattenland

Peter Straub, Heyne

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