Die Geständnisse des Grafen Dracula
- Festa
- Erschienen: Januar 2006
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Ein Vampir fordert Gerechtigkeit
Er lebt zwar nicht mehr, aber das ist für ihn kein Grund, sich mit übler Nachrede abzufinden: Graf Dracula, stolzer Kriegerfürst aus Transsylvanien und im 15. Jahrhundert zum untoten, übermenschlich starken Vampir mutiert, ärgert sich hoch im 20. Jahrhundert noch immer über ein altes Buch, das als Titel seinen Namen trägt und schildert, wie er im Jahre 1891 angeblich sein düsteres Schloss verließ, um England zu terrorisieren und dort unschuldigen Bürgern meist weiblichen Geschlechts das Blut auszusaugen.
Was ein gewisser Bram Stoker einst an Aussagen von Zeitgenossen wie Abraham Van Helsing, Jonathan Harker, Mina Murray, Lucy Westenra oder John Seward über Draculas Taten zusammentrug, ist nach Ansicht des Grafen eine Sammlung schamloser Verdrehungen, Missverständnisse und Fehlinterpretationen gänzlich anders zu deutender Ereignisse. Eines Nachts im Jahre 1975 stoppt er ein Auto, in dem er Arthur Harker, einen Nachfahren Jonathans, und seine Gattin weiß. Kurzerhand entführt er das Ehepaar, denn endlich will Dracula die wahre Geschichte erzählen, die er sogar auf ein Tonband spricht.
Wir lernen ein Wesen kennen, das seine Vergangenheit als grausamer Herrscher eines von Kriegen verheerten Landes schon zu Lebzeiten hinter sich gelassen hat und friedlich auf seinem Schloss residiert, wo er seinen Untertanen weiterhin mit Rat und Tat zur Seite steht. Ende des 19. Jahrhunderts wird Dracula sich der Veränderungen bewusst, die in Europa und den USA eine völlig neue, moderne Welt entstehen lässt. Neugierig geworden beschließt er sein freiwilliges und recht langweilig gewordenes Exil zu verlassen und in London ein neues ";Leben” zu beginnen. Aufwändig fädelt er seine Umsiedlung ein und holt den Rechtsanwalt Jonathan Harker ins Schloss Dracula, wo er sich von seinem Gast in die Gepflogenheiten des Inselreiches einweisen lassen möchte.
Doch sobald Harker erscheint, läuft alles schrecklich schief. Dracula hat wenig Erfahrung im Umgang mit atmenden Menschen. Ihm unterlaufen Fehler, deren Korrektur die Folgen höchstens verschlimmern. Harker ist ein tumber Tropf, der Draculas zarte Andeutungen über seine außergewöhnliche Lebensart nicht begreifen will. Also nimmt der Graf die Sache selbst in die Hand - und verstrickt sich in einen Albtraum logistischer Fehlleistungen, menschlicher Unzulänglichkeiten, vampirischen Pechs und tückischer Zufälle, die ihn ungewollt zurück in das Zentrum turbulenter Ereignisse zwingen ...
Dieser Blutsauger bleibt sogar verdünnt erfolgreich
";Dracula”, der Roman von 1897, brachte seinem Verfasser Bram Stoker (1847-1912) zu Lebzeiten nicht den ersehnten Erfolg. Der im Leben vom Pech ziemlich verfolgte Mann durfte nicht mehr erleben, wie der von ihm geschaffene Vampirgraf erst auf der Bühne und dann im Kino eine Kultfigur wurde. Der Roman erreicht inzwischen Rekordauflagen, wurde in fast jede Sprache dieser Erde übersetzt und wird überall stets neu aufgelegt.
Dieser Erfolg ";inspirierte” ein Heer mehr oder (meist) weniger begabter Autoren, sich des Dracula-Themas anzunehmen und neue Abenteuer um den zwar untoten aber höchst aktiven Blutsauger zu kreieren. ";Dracula” erfuhr im Laufe von mehr als 100 Jahren unzählige ";Fortsetzungen”, die sich in der Regel vor allem durch ihre obskuren Handlungen und Figurenzeichnungen ";auszeichnen”.
Nur selten gelang es, den Mythos aufzugreifen und zu bereichern. Fred Saberhagen gehört zu den Autoren, die dieses Kunststück meisterten. 1975 griff er die Dracula-Figur zum ersten Mal auf. Er näherte sich ihr nicht, indem er ihr neue Abenteuer auf den vielgestaltigen Leib schneiderte, sondern wählte einen schwierigen Weg: ";Die Geständnisse des Grafen Dracula” spielen quasi zwischen den Zeilen des Romans von 1897.
Eine kluge Idee ist das, denn ";Dracula” ist kein typischer Roman, sondern eher ein Konglomerat aus (fiktiven) Tagebucheinträgen, Briefen, Buch- und Zeitungsartikeln sowie Tonbandberichten. Stoker, der bereits eine Reihe beachtlicher Kurzgeschichten verfasst hatte, als er sich an die Niederschrift des ";Dracula” machte, tat sich schwer mit der ";langen” Form. ";Dracula” lässt sich durchaus als notdürftig geklitterter Roman bezeichnen.
Aus der Not wurde freilich ein Tugend: Die ";unfertig” wirkende Gestalt lässt ";Dracula” heute erstaunlich modern wirken. Die gewaltigen Lücken im Handlungsgerüst spornen den Leser an, sich seine eigenen Gedanken zu machen. Stoker kann sich aus heutiger Sicht glücklich schätzen, nicht jedes Detail bedacht und beschrieben zu haben, zumal er dort, wo er es versuchte, keineswegs immer überzeugen kann.
In die genannten Lücken platziert nun Fred Saberhagen seine Version der Dracula-Sage. Er geht von der Existenz von Vampiren auf der Basis nüchterner biologischer Fakten aus. Dracula ist für ihn eine zwar ungewöhnliche Kreatur, die sich indes nicht annähernd so weit vom ";normalen” Menschen entfernt hat wie Stoker es postulierte.
Auch Vampire sind nur Menschen
Die daraus resultierende Charakterisierung ist für die Handlung von entscheidender Bedeutung. Saberhagens Dracula ist ein uraltes, durch Erfahrung gereiftes Wesen, das nach einem Platz für sich in der Welt sucht - einer Welt, die sich Ende des 19. Jahrhunderts so verändert hat, dass selbst ein Vampir, dessen Existenz mehr als 400 Jahre währt, in Aufbruchstimmung versetzt wird.
Dracula ist ein Überlebender, der die wilden Tage seiner ";lebendigen” Vergangenheit als Fürst der Walachei längst hinter sich gelassen hat. Der Mensch Vlad Dracul war der Schrecken der ständig über die Grenze drängenden Türken, der den Feind durch bizarre Gräueltaten zu terrorisieren suchte. Dracula, der Vampir, hat mit dieser Vergangenheit abgeschlossen. Paradoxerweise ist er zum friedfertigen Einzelgänger geworden, dem seine Blutmahlzeiten im Tausch gegen diverse Dienste von seinen Untertanen geliefert werden.
Der Vampir saugt Ferkel und anderes Viehzeug aus - ein erster Schlag gegen den Mythos, der ihn zu einer Geißel der Menschheit ernennt. Dracula benötigt kein Menschenblut. Die wenigen Male, die ihn angesichts hübscher Frauen schwach werden ließen, bereut er längst, denn seine ";Opfer” sitzen ihn im Nacken und piesacken ihn als tumbe, zänkische Vampir-Quälgeister, von denen er längst die Nase voll hat.
Generell leidet Dracula stark unter der Tücke des Objekts, was angesichts seiner überlangen Existenz kaum verwundert: ";Blowups happen”, und das Risiko steigt mit den Jahren. Der Graf ";lebte” in seinem Heimatland auch als Untoter gut integriert. In der Fremde ist er allerdings ratlos. ";Die Geständnisse ...” lesen sich anfänglich als Kette gut gemeinter doch drastisch gescheiterter Pläne eines Neuanfangs. Dracula hat genug von der Abgeschiedenheit, aber er unterschätzt, wie viel weiter sich die Welt inzwischen tatsächlich gedreht hat.
Was daraus resultiert, liest sich überwiegend heiter. ";Die Geständnisse ...” sind eher Horror- Parodie als Horrorroman. Durch die erschöpfende Erläuterung genau jener Ereignisse, auf die Stoker kaum oder gar nicht einging, verliert Dracula seinen Nimbus als geheimnisvolle Verkörperung des Bösen. Bei Saberhagen ist er genau dies nicht, sondern ein Zeitgenosse, der bei dem Versuch sich zu verändern von einer Katastrophe in die nächste gerät. Diesen Dracula fürchten oder bewundern wir nicht - wir bemitleiden ihn!
Er ";funktioniert” auch als verboten anziehender Liebhaber nur bedingt. Dracula liebt die Frauen, und er macht sie sich gewogen machen, indem er ignoriert, was ihnen im Falle Lucy Westenras und Mina Murrays vor allem zu schaffen macht: die bedrückende, männlich orientierte Gesellschaftsordnung einer Epoche, die der Frau eine rein passive Rolle aufzwang. Dracula kann Van Helsing und seine Mannen nicht nur deshalb düpieren, weil sie sich ausgesprochen dämlich als Vampirjäger anstellen, sondern nutzt auch die Schauklappen, die sich der Gentleman in Queen Victorias Ära selbst anlegt. Sie sind außerstande, den Grafen zu fassen, weil sie sich ihn nur als Ausgeburt des Teufels vorstellen können, wie es ihnen die zeitgenössische ";Wissenschaft” gebietet. Der Gedanken, dass Dracula real ist und mit beiden Beinen auf dem Boden der Naturgesetze existiert, übersteigt ihren engen Horizont.
Van Helsing war der wahre Schurke
Saberhagen hat sich ohnehin entschlossen, die menschlichen Hauptfiguren des ";Dracula”-Romans von Stoker als törichte, geistig unreife, notorisch verständnislose und in ihrer Ignoranz gefährliche Tröpfe darzustellen. Dracula wird zum Opfer von Umständen, für die seine Verfolger verantwortlich zeichnen, die mental so gar nicht in die neue, aufregende Zeit des nahenden 20. Jahrhunderts passen. Vor allem Van Helsing kommt schlecht in seinem Bericht weg. Er wird zum eigentlichen Schurken der Handlung - ein intelligenter aber beschränkter, fanatischer Mann mit sadistischen Zügen, die er gleich mehrfach auslebt. Dracula stellt sehr richtig die Frage, wie es mit der Psycho dieses Menschen bestellt sein muss, der ausgerechnet Arthur Holmwood dazu zwingt, seiner im Leben geliebten, nun zur Vampirin gewordene Lucy einen Holzpfahl ins Herz zu treiben. Van Helsing hätte das selbst übernehmen können. Solche grausamen Spielchen treibt er gern - und Saberhagen stellt gleichzeitig Stokers Intentionen auf den Prüfstand, indem er zentrale Passagen aus dem ";Dracula”-Opus wörtlich zitiert - sie gewinnen plötzlich eine ganz neue Bedeutung!
Dracula steht längst über den Zeitläufen. In seiner mehr als 500 Jahre währenden Existenz hat er gelernt, die Dinge objektiv zu betrachten. ";Die Geständnisse ...” wirken in dieser Hinsicht besonders modern, da er sie noch einmal Jahrzehnte nach den geschilderten Ereignisse macht. (Nebenbei: Der deutsche Titel ist ausgesprochen irreführend; Dracula ";gesteht” nicht, er berichtet - was sollte er auch gestehen, da er sich keiner Verbrechen schuldig gemacht hat?) Den Menschen gelingt dies nicht, denn ihnen fehlen die entsprechenden Erfahrungen. Das hat sich 1975 nicht geändert; als der Graf seine Geschichte erzählt hat, flüchten seine Zuhörer panisch in die eisige Nacht.
Letztlich findet Dracula doch seinen Platz in der modernen Welt. Was er 1891 durchmachen musste, hat ihn soviel gelehrt, dass er 1975 (und auch zukünftig, denn Saberhagen spann seine Abenteuer in neuen Romanen weiter) friedlich sein ";Leben” führen kann. Wie es nach seinem ";Tod” weiterging, möchte der Leser gern erfahren. Saberhagen streut bereits in die ";Geständnisse” verschiedene Andeutungen ein, raunt von Sherlock Holmes als realer Person, gewinnt überraschende Erkenntnisse über die Jack-the-Ripper-Morde und trifft Sigmund Freud. Unsterbliche Vampire sind für lange laufende Romanserien gut; Fred Saberhagen hat dies noch vor Anne Rice, Chelsea Quinn Yarbro oder P. N. Elrod erfasst und sich zunutze gemacht.
Fred Saberhagen, Festa
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