Der Rattenzauber
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 1995
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Nicht nur die Ratten kommen aus ihren Löchern
Im Spätsommer des Jahres 1284 wird Herzog Heinrich von Braunschweig über seltsame Umtriebe in einer Grenzregion seines Territoriums informiert. Wo die von dichtem Wald bedeckten Höhen des Teutoburger Waldes besonders schroff und abweisend sind, liegt am Fluss Weser die alte Stadt Hameln. Drei Monate zuvor soll hier ein seltsamer Mann oder Hexer erschienen sein, der mit seiner Flöte die Kinder betört und 130 von ihnen mit sich genommen habe; sie sind seither spurlos verschwunden.
Hameln ist ein wichtiger Baustein in Heinrichs Wirtschaftspolitik. Seit Jahren pumpt der Herzog viel Geld in die Stadt, die am Hellweg liegt - dem alten Fernhandelsweg, der die Gewerbestädte an Maas und Rhein mit den Ostseestädten verbindet. Er schickt deshalb seinen Ritter Robert von Thalstein nach Hameln, der vor Ort den Gerüchten auf den Grund gehen soll.
Robert wurde in Hameln geboren, hat die Stadt jedoch vor zwanzig Jahren nach dem tragischen, von ihm verschuldeten Tod verlassen und kehrt nur ungern dorthin zurück. Die Ermittlungen sind schwierig, denn aufgrund komplizierter Verträge muss sich der Herzog von Braunschweig die Macht in Hameln mit dem Bischof Volkwin von Minden teilen. Nur mühsam halten die beiden konkurrierenden Fürsten Frieden. Als Parteigänger Heinrichs wird Robert sogleich in die lokalen Querelen verwickelt.
Über Hameln lasten Angst und Misstrauen. Die Bürger geben Unkenntnis vor, schweigen oder drohen mit Gewalt. Was weiß die junge Nonne Julia, angeblich vor drei Monaten eines der verschwundenen Kinder? Haben die ketzerischen Wodans-Jünger ihre Hände im Spiel? Wer ist der alte Eremit, der zu Füßen des Kopfelberges 130 menschenähnliche Alraunen-Stöcke zieht? Immer tiefer dringt Roland in die Mysterien von Hameln vor und lässt sich von Warnungen und Mordanschlägen nicht schrecken ...
Gekonnt gezapfter Historien-Wein
Als Kai Meyer den „Rattenzauber“ 1995 erstmals wirken ließ, waren Mystery-Thriller aus deutschen Landen noch selten. Außerdem stellten sie nicht gerade selten unerfreuliche Lektüre dar. Umso bemerkenswerter war damals dieses Buch, das in Form und Inhalt jederzeit überzeugen konnte. Es gab ihn also, den phantastischen Roman aus Deutschland, auch wenn er - wie es sich für eine echte Nadel gehört - tief in jenem Heuhaufen verborgen lag (bzw. unter einem Fuder Mist begraben war), den die typischen Tausend-John-Sinclair-Hefte-gelesen-und-das-kann-ich-auch-Autoren produzierten. Die ‚Nachgeborenen‘ dürfen jedenfalls froh sein, dass sich dies seitdem grundlegend geändert hat; zwar sind die Zeilen- und Leser-Schinder keineswegs ausgestorben, aber ihnen stehen eine Mehrzahl versierter Autorinnen und Autoren und ein reiches Angebot einschlägiger Titel gegenüber.
Deutschland ist für das Phantastik-Genre mit seiner vielhundertjährigen Geschichte und seinem reichen Sagen- und Legendenschatz ein Claim, dessen Reichtum mit dem schottischen Hochland oder dem amerikanischen Neu-England (Lovecrafts und Kings Country) allemal konkurrieren kann! Man muss allerdings über Talent und schrifthandwerkliches Geschick verfügen, um diesen Schatz publikumswirksam zu heben.
Kai Meyer besitzt beides. Das Ergebnis ist folgerichtig ein überdurchschnittlicher Unterhaltungsroman. Bereits Ort und Zeit der Handlung überzeugen. Die Sage vom Rattenfänger, der den Bürgern Hamelns, die ihn um seinen Lohn geprellt haben, die Kinder entführt, ist allgemein bekannt. (In Hameln hat man zu einer Touristenattraktion gemacht und führt an sommerlichen Wochenenden im Herzen der Altstadt die ‚Ereignisse‘ von einst als Schauspiel auf; sogar eine Musical-Version namens „Rats“ gibt es inzwischen.)
Alte Geschichte wird ‚ehrlich‘ = lesbar erzählt
Meyer verknüpft sein Garn mit wenigen, aber klug gewählten geschichtlichen Realitäten. Nichts ist so furchtbar zu lesen wie jene ‚historischen‘ Romane, deren Handlung unter der Last angelesener und papageiengleich nachgeplapperter Fakten in die Knie geht! Ein weiterer Pluspunkt: Meyer verzichtet darauf, seine Figuren ‚mittelalterlich‘ denken, handeln und sprechen zu lassen. Das ist für nicht nur für diejenigen Leser, die mit dem Thema vertraut sind, eine uneingeschränkte Erleichterung, denn es geht - wenn man nicht gerade Umberto Eco heißt - garantiert schief. Im Umfeld des „Rattenzaubers“ ist es zudem gar nicht erforderlich. Meyers ‚stilisiertes‘ Mittelalter funktioniert für seine Schauergeschichte genauso, wie es funktionieren sollte.
Die Geschichte ist natürlich nicht wirklich neu. Aber wer würde und könnte dies heutzutage verlangen? Außerdem wartet Meyer mit einer Lösung des Rattenfänger-Rätsels auf, die man so nicht erwartet hätte. Sie ist nicht unbedingt originell und wirkt auch nicht durchgängig überzeugend, aber sie baut wirkungsvoll auf der Prämisse auf, dass der Mensch keine Teufel braucht, um sich die Hölle auf Erden zu bereiten.
Stilistisch hält Meyer das Heft fest in der Hand. Hier und da rutscht der Erzählfluss ins Pseudoatemlos-Hastige ab, aber meistens zieht der Autor den Handlungsfaden straff und erzählt einfach eine Geschichte, die unterhalten soll - eine Forderung, die so einfach zu erfüllen scheint, an der die (deutschen) SF-, Fantasy- und vor allem Horror-Schriftsteller aber regelmäßig scheitern. Da kann man für einen Erzähler, der sein Handwerk versteht, umso dankbarer sein.
Fazit:
Die Neuinterpretation der alten Sage vom Rattenfänger als historischer Thriller besticht durch Spannung und erzählerisches Geschick. Phantastische Elemente sind eigentlich überflüssig, sie werden indes sparsam eingesetzt ‑ ein gelungenes Lesevergnügen.
Kai Meyer, Bastei-Lübbe
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