Der junge Titus (Gormenghast 1)
- Klett-Cotta
- Erschienen: August 2010
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Ein Mikrokosmos im Niedergang
"Der junge Titus" ist der erste Band der "Gormenghast-Trilogie" von Mervyn Peake. Schloss Gormenghast wird seit 76 Generationen von den Groans regiert, die zu Beginn des Romans mit Titus einen Erben erhalten, der die Dynastie fortsetzen wird. Die Erzählung umfasst die ersten zwei Lebensjahre des kleinen Titus, folgt jedoch nicht diesem, sondern überwiegend seiner jungen Schwester Fuchsia und dem Küchenjungen Steerpike. Während Titus von seiner Nannie Mrs. Slagg aufgezogen wird, steigt der hoch manipulative Steerpike durch Intrigen, Cleverness und Hinterhältigkeit im Gefüge des Schlosses und seiner Bewohner auf, gewinnt wachsenden Einfluss und entwickelt sich zur Bedrohung für Gormenghast.
Das Personal - ein anthropologisches Kuriositätenkabinett
Peake entwickelt seine allesamt eigenartigen Charaktere detailreich. Die Hauptfiguren sind exzentrische Melancholiker, wie Lord Sepulchrave, Gräfin Gertrude, Lady Fuchsia und Diener Flay, oder sie haben einen veritablen Dachschaden, wie die neurotischen Zwillinge Lady Cora und Lady Clarice, die Geschwister Prunesquallor und Barquentine.
Gräfin Gertrude, die zurückgezogen lebt und sich um Vögel kümmert, hat mit der Geburt von Titus nur ihre Pflicht für die Nachfolge in der Dynastie erfüllt. Folglich will sie, nachdem sie erfahren hat, dass es Titus gut geht, ihn die nächsten zwei Jahre auch nicht sehen. An ihrem Ehemann hat sie ohnehin kein Interesse.
Im Zentrum der Ereignisse steht Steerpike, ein intelligenter Opportunist auf dem Weg nach oben. Er hat ein Sensorium für die Be- und Empfindlichkeiten Gormenghasts und seiner Bewohner. Besonders Lord Sepulchraves Zwillingsschwestern Cora und Clarice, die auf der ständigen Suche nach Anerkennung und nach Wiederherstellung ihrer (eingebildeten) früheren Machtposition sind, nützen ihm bei der Ausbeutung des Systems und bei seiner Rebellion.
Lady Fuchsia fühlt sich zu Steerpike hingezogen, obwohl sie ihm mit großem Misstrauen begegnet. Fuchsia macht einen kindlich-naiven Eindruck. Aber einwandfrei funktioniert ihr Gehirn auch nicht. Sie spricht in teils wirren Bildern und ist zur Verständigung in normaler Sprache kaum fähig. Sie zehrt sich auf zwischen ihrer Rolle als Adlige und dem Wunsch, ein einfacher Teenager zu sein, der sich nach der Liebe und Zuwendung seiner Eltern sehnt. Die Rolle der Ersatzmutter spielt für sie die alte Nannie Mrs. Slagg. Ihr wichtigster Vertrauter ist der Arzt Dr. Prunesquallor. Arzt und Nannie sind die einzigen Menschen, denen an Fuchsias Wohlergehen liegt.
Bis auf die aus dem Dorf stammende Amme Keda ist niemand im Schloss attraktiv oder liebenswert. Nahezu alle Personen, auch Titus, Fuchsia und Steerpike, werden als hässlich beschrieben. Keda ist eine tragische Figur, ihre Geschichte ist traurig und zeugt von der Fragilität wahrer Schönheit.
Gormenghast als organisches System im Verfall
Das "System Gormenghast" kreist nur um sich selbst, ist beschäftigt mit der eigenen Reproduktion und der Verwaltung des Stillstandes, der Erstarrung. Handlung im Sinne von Aktion ist hiermit nur schwerlich vereinbar. Folglich geschieht auch beinahe nichts. Auf Seite sieben spricht jemand die Worte "Ich bin's." Bis es aber soweit ist, werden uns Rituale beschrieben und ein Kurator namens Rottcodd, der für die schlosseigene "Halle der Edlen Schnitzwerke" zuständig ist. Darin enthaltene Skulpturen befreit er mit seinem Wedel vom Staub, wenn er nicht gerade in seiner Hängematte liegt und die Zeit vergehen lässt. Der Staub jedoch ist damit nicht verschwunden, sondern lagert sich auf dem Boden ab. Sobald der Kurator den Raum möglichst langsam durcheilt, wirbelt er eben diesen Staub auf. Er ist der Motor einer Maschine, die allein als Umwälzanlage für Staub effektiv ist, aber darüber hinaus nur einen fragwürdigen Sinn hat. Diese kleine Maschine ist ein sehr schön entwickeltes Bild für das gesamte System.Die Dekadenz von Gormenghast, die ständige Bewegung seiner Bewohner an der Klippe zum Wahnsinn, zum moralischen und intellektuellen Zerfall, sind wichtige Themen des Romans.
Vielleicht war Gormenghast irgendwann einmal eine dem Leben zugewandte und nach vorne gerichtete Gesellschaft. Aber sie ist von innen verrottet, durch eine seelenlose Bürokratie und sinnlose Rituale zu dem geworden, was wir im Buch erleben. Die herrschende Dynastie ist korrupt und böse. Der Aufsteiger Steerpike, der sich anschickt, die Herrschaft zu übernehmen, ist allerdings noch übler. Steerpike arbeitet sich in diesem System vom Küchenjungen hoch, durch Täuschungen und Intrigen, um diesen Kosmos unter seinen Einfluss zu bringen.
Ein Randwerk der Fantasy
Bis heute wird Gormenghast allenfalls am Rande der Fantasyliteratur wahrgenommen. Dies mag daran liegen, dass es mit dem das Genre dominierenden Tolkien-Kosmos nichts zu tun hat. Es mag seine Ursache auch darin haben, dass Gormenghast ein obskures Werk ist, weit ab davon, für Leser Gefälligkeiten zu bieten. Die den Titel bestimmende Figur Titus ist schon wegen seines Alters als Handlungsträger ohne Bedeutung. Er scheint allenfalls ab und an wie ein Versprechen für die Zukunft auf - nur welchen Inhalts?
Peake mäandert durch seine Konstruktion, die ebenso unübersichtlich ist wie das Schloss selbst. Er wartet mit einem organisch wirkenden und visuell orientierten Erzählstil auf, in dessen Zentrum sich ein Schloss befindet, durch dessen Eingeweide er uns führt, während er uns die einzelnen Bestandteile dieses Organismus' beschreibt, erklärt und spüren lässt.
Mervyn Peake, Klett-Cotta
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