Tänzer im Frost
- Bastei-Lübbe
- Erschienen: Januar 1997
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Fantasy-Epos mit Hasen als Helden
Hoch oben in den Bergen der schottischen Highlands lebt das Volk der Schneehasen. Hier, wohin die Menschen sich selten verirren, führen die einzelnen Clans - ungeachtet ihrer zahlreichen Feinde, die ein Stück wohlschmeckendes Hasenfleisch zu schätzen wissen - ein geruhsames Dasein. In dieser Welt wächst Flitzer vom Clan der Geröller auf. Der junge Hase unterscheidet sich von seinen Artgenossen; er ist wissbegierig, und er macht sich Gedanken über die Welt jenseits des Hochlands. Seine geistige Gewandtheit ist von Vorteil, als aus heiterem Himmel eine Katastrophe über den Geröller-Clan hereinbricht: Menschen treiben die Hasen zusammen, setzen sie gefangen und verschleppen sie ins Flachland, wo sich Flitzer und einige andere Clans-Mitglieder auf einem Bauernhof wieder finden.
Der Schrecken der Hasen steigert sich zu blankem Entsetzen, als sie feststellen müssen, dass sie auf einer Treibjagd zum Vergnügen der Menschen gehetzt und getötet werden sollen. Die meisten Hasen kommen um, doch Flitzer, der die Augen offen gehalten hat, findet die Schwachstelle in der Treiberkette und kann entkommen. Allein in der Fremde des Flachlandes versucht Flitzer, in seine Heimat zurück zu finden. Doch ein einzelner Hase, der über die Felder zieht, schwebt ständig in Gefahr. In seiner Not schließt er sich zeitweise einem Kaninchen-Stamm an, der dem Unbekannten zunächst eher widerwillig Asyl gewährt, bis man einander besser kennen und schätzen lernt. Doch Flitzer zieht bald weiter. Er denkt daran, sich im Flachland nieder zu lassen. Die Kaninchen haben ihm von einem Platz erzählt, der ihm zusagen könnte. Freilich warnen sie den Hasen eindringlich: An jenem Ort soll der Floger, ein fliegender Teufel, hausen, dem kein anderes Tier gewachsen ist.
Flitzer schlägt die Warnungen in den Wind, ohne zu ahnen, dass er sich in Lebensgefahr begibt: Der Hase gerät in das Reich Bubbas, des riesigen Harpyie-Adlers, der sich zum Herrn des Flachlandes aufgeschwungen hat. Der Floger ist ein heimatloser Fremder; aus seiner südamerikanischen Heimat hat man ihn über den Atlantischen Ozean nach England gebracht, wo er seiner Gefangenschaft entkommen konnte. Gestrandet in einer ihm fremden Umgebung und völlig allein, hat sich sein Geist verwirrt. Gnadenlos terrorisiert er seine die Umgebung und tötet aus reiner Mordlust.
Auch im Flachland leben Hasen - die Kolonie der Mondhäsin, die Flitzer mit einigem Misstrauen entgegen tritt. Doch schließlich nimmt sie den Fremden auf, und in den folgenden Monaten beginnt sich Flitzer einzuleben. Die ständigen Attacken des Flogers gedenkt der Schneehase nicht als unausweichliches Schicksal zu akzeptieren. Er rät seinen neuen Freunden, sich wie die Kaninchen unterirdische Schlupfwinkel zu graben. Daraufhin geht die Zahl der Opfer merklich zurück. Doch Flitzer denkt weiter: Den Feind muss man offensiv angehen und ihn ausschalten. Diese gefährliche Aufgabe will Flitzer selbst übernehmen - ein Unternehmen, das gründlich misslingt und eine Kette bedrohlicher Ereignisse in Gang setzt ...
Hasen sind auch nur Menschen
Tiere, die sich wie Menschen benehmen, bevölkern die Literaturgeschichte schon seit vielen Jahrhunderten. Fabeln, gleichnishafte Geschichten, in denen bestimmte menschliche Wesenszüge auf bestimmte Tierarten projiziert wurden, um sie auf diese Weise um so plastischer darzustellen, sind seit dem griechischen Altertum (7. Jh. v. Chr.) bekannt, doch gibt es offensichtlich noch ältere Formen aus dem indischen Raum.
"Tänzer im Frost" ist natürlich keine klassisch-strenge Fabel, sondern eine Tier-Fantasy - ein ungleich jüngeres Subgenre der fantastischen Literatur, das seine Leser nicht mehr belehren, sondern 'nur' noch unterhalten möchte. Auch diese Tiere verhalten sich nicht artgerecht, sondern agieren als Spiegelbilder menschlicher Verhaltensweisen. Der Grund ist ebenso einfach wie einleuchtend: Der Leben eines echten Hasen verläuft recht prosaisch und ist nur für den eingefleischten Biologen von besonderem Interesse.
Der Nagetier-Kosmos ist grün
Seltsamerweise legen gerade die modernen Autoren von Tier-Fantasy großen Wert darauf, ihre 'menschlich' denkenden und handelnden, d. h. absolut irrealen Protagonisten in eine Welt zu setzen, die streng den Gesetzen der Ökologie gehorcht. Das hat gewisse Konsequenzen, die recht erheiternd sein können. So kann kaum ein Autor solcher Tiergeschichten der Versuchung widerstehen, seine Figuren in eine Art Paradies nach "Greenpeace"-Zuschnitt zu versetzen. Auch Kilworths Hasenkolonie erinnert stark an eine alternative Landkommune (oder einen unentdeckten Eingeborenen-Stamm), deren Mitglieder ein harmonisches Leben im Einklang mit Mutter Natur führen und dafür mit innerem Frieden und guter Verdauung belohnt werden.
In einer Welt vermenschlichter Hasen darf natürlich die Religion nicht fehlen. Ein Leben am Busen der Natur scheint ohne Mythen und Mysterien nicht möglich zu sein. Echte Hasen sind vermutlich Atheisten, aber Garry Kilworth lässt sich die Chance nicht entgehen, seine Leser in die exotische Welt nagetierischer Religion einzuführen. Diese trägt irgendwie indianische Züge, was für gute britische Hasen reichlich eigenartig wirkt.
"Tänzer im Frost" ist nicht Garry Kilworths erster oder einziger Ausflug in die Tier-Fantasy. Er hat er sich sogar zu einem Spezialisten entwickelt, der sich anscheinend vorgenommen hat, nach und nach der Tierwelt der gemäßigten Klimazonen ein literarisches Denkmal zu setzen. So hat er sich mit seiner Feder neben dem Hasen bereits dem Fuchs ("Füchse unter sich"/"Hunter's Moon"; 1989), der Maus ("Im Reich der Mäuse"/"House of Tribes"; 1995) und dem Wolf ("Fürst der Wölfe"/"Midnight´s Sun"; 1990) gewidmet; seine aktuell erfolgreichen Tierhelden sind die "Gewieften Wiesel".
Der Hase - viel mehr als ein Nagetier
Der Hase genießt in der Kunst- und Literaturgeschichte seit jeher eine Sonderstellung. (Einen guten und überdies amüsanten Abriss bietet das von Klaus Wagenbach 1983 herausgegebene - leider vergriffene - Wagenbach-Taschenbuch-Bändchen Nr. 100: "Karnickel, Karnickel".) Als Symbol der Fruchtbarkeit wird er schon in frühgeschichtlicher Zeit verehrt. Sogar die rabiate Einführung des Christentums hat er glänzend überstanden - als Osterhase getarnt, konnte er seine besondere Stellung bis heute behaupten und hat als "Meister Lampe" buchstäblich sprichwörtliche Bedeutung erlangt. (Ganz zu schweigen von "Mümmelmann", dem Hermann Löns 1909 zu literarischem Ruhm verholfen hat.)
Dennoch musste der Hase vor einigen Jahren seine Spitzenposition in der ewigen Bestseller-Liste der Tier-Fantasy räumen, und zwar für seinen 'kleinen Vetter', das Kaninchen. Mit tolkienscher Sprachgewalt hat 1972 Kilworth' Landsmann Richard Adams mit "Unten am Fluss - Watership Down" einen modernen Klassiker des Genres veröffentlicht (der 1979 sogar verfilmt wurde).
Ein solches Meisterwerk ist Garry Kilworth nicht gelungen. Das trübt aber in keiner Weise das Vergnügen an seinem spannenden, flüssig erzählten und mit 'Menschenwerk' unterfütterten, aber nicht überfrachteten Roman. Besonders mit dem schizophrenen Adler Bubba, der weit mehr als der tumbe Bösewicht einer Märchenwelt ist, hat Kilworth einen Charakter ins Leben gerufen, der im Gedächtnis haften bleibt.
Garry Kilworth, Bastei-Lübbe
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