Schlüssel zur anderen Welt
- Moewig
- Erschienen: Januar 1964
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Unendlich viele Erden in Reserve
Jay Vickers führt in diesem Zukunftsjahr 1977 zufrieden das zurückgezogene Leben eines leidlich erfolgreichen Schriftstellers. Traurig ist er höchstens über den Verlust seiner Jugendliebe und deshalb immer noch Single, aber eingebunden in das Leben der Kleinstadt Cliffwood, wo er einige gute Freunde gefunden hat.
Es dauert immer eine Weile, bis Neuigkeiten aus der „großen Welt“ = der Großstadt nach Cliffwood durchdringen. Nun eröffnet auch hier einer dieser speziellen Läden mit ihrem eingeschränkten Angebot an Waren, die es freilich in sich haben: Rasierklingen, die niemals stumpf werden, Feuerzeuge, die stets zünden, Glühbirnen, die nie durchbrennen - und synthetische Kohlenhydrate, die jeden Hunger stillen. Angekündigt sind ein Automobil mit lebenslanger Garantie und Wohnraum für den Bruchteil der üblichen Kosten.
In der Geschäftswelt bricht Panik aus. Ganze Produktionszweige stehen vor dem Aus, und es ist klar, dass noch weitere kostengünstige, verbrauchsarme und haltbare Dinge folgen werden. Man schließt sich zur „Nordamerikanischen Forschungsgesellschaft“ zusammen und gedenkt notfalls offensiv gegen die unerwünschten Wohltäter vorzugehen.
Vickers gerät in den Strudel der Ereignisse. Er hat sich gegen die „Gesellschaft“ gestellt. Jetzt gilt er als ‚Feind‘, wird verleumdet, als Verbrecher hingestellt und muss aus Cliffwood flüchten. Er will das Geheimnis der ‚magischen‘ Waren lüften. Die sind in der Tat nicht von dieser Welt, sondern entstehen auf einer ‚parallelen‘ Erde, die nur Menschen mit mutierten Genen erreichen können. Vickers gehört zu ihnen. Auf der ‚zweiten‘ Erde wird er in einen Plan eingeweiht, der die Zukunft der Menschheit rigoros verändern soll ...
Auf friedlichem Umweg zum Lebensglück
Clifford D. Simak (1904-1988) war ein Autor der leisen Töne in einem zunächst eher ‚lauten‘ Genre: Die frühe Science Fiction schwelgte in naturgesetzloser Super-Technik, verwickelte zum Helden geborene Erdmänner in galaxienumspannende Konflikte, entfesselte gewaltige Raumschlachten, riss die Grenzen von Raum und Zeit nieder oder machte die Erde zum Ziel finsterer Invasoren, die mit klirrenden Waffen zurückgeworfen werden mussten. In den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg zog Simak wohl oder übel mit, aber damit war Schluss, als er nach 1950 damit begann, SF-Romane zu schreiben.
Ohne das spannende Spektakel gänzlich auszuklammern, konfrontierte Simak ganz normale Durchschnittsmenschen mit dem Phantastischen. Dazu mussten sie weder die Erde verlassen noch in unendliche Zukünfte vordringen: Simak suchte das Ungewöhnliche im betont Alltäglichen und verstand es, in dieser Beschränkung das Faszinierende zu finden: Er hatte ein Gespür für ‚ruhige Spannung‘. Wer sein Werk kennt, weiß, was damit gemeint ist.
Was heutzutage als „inner space“ die „space operas“ der Gründerzeit in den Schatten stellt, war neu und Simak ein Pionier, auch wenn man in diesem Punkt differenzieren muss. Seine SF wurde durch Lebens- und Alltagsideale bestimmt, die in der Vergangenheit wurzelten. Simak war ein Kind des ländlich-kleinstädtischen (mittleren) US-Westens. Hier wuchs er auf, und hier verbrachte er den Großteil seines Lebens. Die Tugenden einer noch durch die Pionierzeit der USA gefärbten Gesellschaft hat Simak verinnerlicht und in sein Werk einfließen lassen.
Zurück zur Scholle
Die ‚bessere‘ Welt ist klein bzw. übersichtlich und gibt den wahren Werten des Lebens Raum. Handarbeit und Landwirtschaft stehen über Büroarbeit und Industrie, weil es zufriedenstellt zu säen, zu ernten oder etwas selbst herzustellen. Die Gemeinschaft setzt sich eigene Regeln und achtet auf deren Einhaltung, von ‚außen‘ mischt sich niemand ein. Es ist klar, in welche Richtung dies geht, weshalb an dieser Stelle von der Auflistung weiterer Tugenden abgesehen werden kann.
Bis zu seinem Tod war Simak als Schriftsteller aktiv sowie ‚seiner‘ SF treu. Dass Politik, Gesellschaft und Kultur sich in den mehr als fünf Jahrzehnten seit seinem Debüt veränderten - er hätte wahrscheinlich von „Moden“ gesprochen -, war ihm durchaus klar. Simak war von der Richtigkeit seiner Haltung überzeugt, aber weder naiv noch intolerant. So geht seiner heilen Welt religiöser Fundamentalismus ab. In „Schlüssel zur anderen Welt“ (aka „Ring um die Sonne“) richtet sich Simaks Kritik auf die Verfolgung von Menschen, die „anders“ sind, aber auch auf die Leichtigkeit, mit der „die Mehrheit“ manipuliert und in einen blindwütigen Mob verwandelt werden kann. (Das Mutanten-Thema griff Simak 1961 in „Time Is the Simplest Thing“, dt. „Die unsichtbare Barriere“, wieder auf, variierte und vertiefte es.)
Der Einklang mit der Natur spielt ebenfalls eine wichtige Rolle. Wie praktisch in allen seinen Romanen und Erzählungen schwelgt Simak in ausführlichen, geradezu lyrischen Landschaftsbeschreibungen. Dabei wird nicht nur die unberührte Wildnis, sondern auch die landwirtschaftliche Nutzfläche so verklärt, dass jedem grün gepolten Leser das Herz im Leibe lachen dürfte. Simak war in dieser Hinsicht seiner Zeit voraus, obwohl er gleichzeitig in der Tradition älterer ‚Zivilisationsgeschädigter‘ à la Henry David Thoreau (1817-1862) stand.
Die Wildnis als Symbol
Als Paradies bietet sich die unberührte = von Über-Technik, Geld und Egoismus freie Erde 2 den Menschen dar. Sie ist nur eine von vielen Erden, die durch Raum und Zeit voneinander getrennt um die Sonne kreisen und auf diese Weise den sinnbildhaften „Ring um die Sonne“ bilden. Diese ‚reine‘ Welt wird zum Rettungsanker für jene Menschen, die einer sie auffressenden Moderne überdrüssig sind und sich nach Freiheit sehnen. Simak ist sich sicher, dass die Rückkehr zu Scholle und Werkstatt die Lösung des Problems darstellt.
Wer nicht so denkt, gehört der ‚feindlichen‘ bzw. noch nicht klug gewordenen Seite an, die hier durch die „Nordamerikanische Forschungsgesellschaft“ verkörpert wird. Deren Mitglieder forschen nicht wirklich und schaffen Wissen für das Allgemeinwohl, sondern stehen im Dienst des Kapitals und wollen ihre Pfründen in Industrie und Handel sichern, die Gratis-Versorgung ihrer Kundschaft stoppen und die idealistische, aber geschäftsschädigende ‚Konkurrenz‘ austilgen. Simak wäre allerdings nicht Simak, würde er den scheinbar unausweichlichen Bürgerkrieg nicht ideenreich unterlaufen.
„Schlüssel zur anderen Welt“ gehört zu Simaks frühen Roman-Werken. Noch scheint ihm der lange Atem manchmal zu fehlen. Dass die Handlung etwas sprunghaft wirkt, mag auch daran liegen, dass die deutsche Übersetzung gekürzt ist. Spürbar ist auch die ursprüngliche Dreiteilung des Romans. Er erschien in Fortsetzungen im Magazin „Galaxy Science Fiction“ (Nr. 5/3-5/5, Dezember 1952 bis Februar 1953). Ungeachtet solcher Schwächen (sowie der Tatsache, dass beide Übersetzungen antiquarisch inzwischen gesucht werden müssen) reiht sich „Schlüssel zur anderen Welt“ in ein altmodisch gewordenes, aber unterhaltsam gebliebenes Œuvre ein, das hierzulande - wieder einmal - verschwunden bzw. nur noch wenigen Kennern und Liebhabern der Science Fiction bekannt ist.
Fazit:
Ungeachtet einiger Schwachstellen zeigt dieser frühe Roman bereits, was Clifford D. Simaks Werk prägt: Eine funktionstüchtige Science Fiction setzt jenseits typischer Knall-Bumm-Effekte auf leise Töne und treibt die Handlung mehrfach in unerwartete Richtungen; kein Genre-Klassiker, aber besser als von der Kritik (hierzulande) behauptet und durchaus lesenswert.
Clifford D. Simak, Moewig
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