Wintergeister: Schaurige Geschichten für frostige Nächte
- DuMont
- Erschienen: September 2024
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Sechsmal grimmiger Festtagsspuk
Sechs Weihnachtsgeschichten der ganz anderen Art:
- Bridget Collins: Der steinerne Dämon(The Gargoyle): Sie zieht in ein Haus neben der Dorfkirche, auf deren Turmspitze jemand über den Friedhof wacht und auf die neue Nachbarin aufmerksam wird.
- Andrew Michael Hurley: Das alte Theaterstück(The Old Play): Dieses Schauspiel ist so alt und so archaisch, dass ein Überleben sämtlicher Darsteller nicht garantiert ist.
- Jess Kidd: Ada Lark(Ada Lark): Der Betrug schurkischer ‚Geisterseher‘ fliegt auf, als sie an ein echtes Gespenst geraten.
- Catriona Ward: Jenkin(Jenkin): Lange muss der an Maggie gebundene Dämon Jenkin auf jene Verfehlung warten, die ihm die Freiheit verschafft, aber irgendwann ist es immer soweit.
- Susan Stokes-Chapman: Der Witwenweg(Widow’s Walk): Der von der betrogenen Gattin gefertigte ‚Elfenbein‘-Fächer wird der ahnungslosen Nebenbuhlerin den plötzlich verschwundenen Liebhaber stets nahebringen.
- Laura Purcell: Das Lied von Glocken und Ketten(Carol of the Bells and Chains): Die genervte Gouvernante will die frechen Kinder mit dem bösen Krampus erschrecken, vergisst jedoch, dass sie selbst einiges zu verbergen hat.
- Die Autor*innen
Weihnachten - die schwelende Zündschnur
Wieso erzählen sich die Menschen ausgerechnet zum Weihnachtsfest gruselige Geschichten? Eigentlich ehrt man den (christlichen) Erlöser, was mit Freude und Besinnlichkeit verknüpft werden sollte. In der Tat ist dies die offizielle Vorgabe, was u. a. offenlegt, dass der Mensch es hasst, wenn ihm Empfindungen empfindungskonträr diktiert werden, und in diesem Fall erst recht die Geister tanzen lässt.
In vergangenen Zeiten spielte das Wetter eine erhebliche Rolle. Bevor der Klimawandel den Winter in eine nasse, matschige und höchstens kühle Jahreszeit verwandelte, konnte Schnee - für viele Millennials ein Fremdwort bzw. ein nach langer Anreise begehrtes Urlaubsziel - die Welt außerhalb fester Mauern über Wochen und Monate bedecken. Der Mangel an Räumgerät führte dazu, dass man buchstäblich in seinem Heim eingeschneit = eingeschlossen werden konnte. Temperaturkonservierung war im Wohnungsbau ein Fremdwort. Fenster und Türen klapperten im eisigen Wind, und die ‚Heizung‘ beschränkte sich auf offene Kamine und Öfen. (Dieser Rezensent kennt noch Fensterscheiben, die innen mit „Eisblumen“ bedeckt waren!)
Die eigentliche Weihnachtskrise nahte jedoch in Gestalt von Familienmitgliedern und Freunden. Man besuchte einander und blieb womöglich eine ganze Weile, um gemeinsam zu ‚feiern‘; eine Herausforderung, wie jeder bestätigen wird, der seine Verwandtschaft kennt! Nur zentrale Räume waren leidlich beheizt, weshalb ein Rückzug ins Gästezimmer keine Erleichterung brachte. Fernsehen, Internet u. ä. Ablenkungen: Fehlanzeige!
Erzählen als Druckventil
Da half nur Eigeninitiative, wie es im Vorwort zu dieser Sammlung moderner Geistergeschichten beschrieben wird: Man versammelte sich dort, wo es warm (und der Nachschub an alkoholischer Entspannung gewährleistet) war und unterhielt einander durch das Erzählen von Geschichten. Die durften keineswegs besinnlich sein, um Langeweile und Frustration nicht zusätzlich zu steigern. Also schwelgte man entweder in Mord oder in Spuk.
Es war (und ist) nicht erforderlich, die unheimlichen Ereignisse an den Festtagen ablaufen zu lassen. Der Winter und die mit ihm verbundenen Situationen und Emotionen - Kälte, Stille, Einsamkeit - reichen aus. Auch der Schauplatz ist nicht zwingend das abgeschieden-isolierte Landhaus, in dem Jess Kidd und Laura Purcell ihre Hauptfiguren auf das Grauen treffen lassen. Umgehen kann es überall; das Talent der jeweiligen Erzähler garantiert die notwendige Atmosphäre. Dass fünf dieser sechs Erzählungen (ausgewählt aus einer wesentlich umfangreicheren Original-Kollektion) von Verfasserinnen stammen, dürfte ein Zufall sein, macht aber deutlich, dass Schrecken je nach Geschlecht ein wenig anders gelagert sein kann, was seine Intensität (sowie Qualität) keinen Abbruch tut.
Spuk ist in diesen Schauergeschichten eine ernsthafte Sache. Oft überleben die Protagonisten die Begegnung mit dem Jenseits nicht, denn eine solche Konfrontation ist riskant und in jedem Fall eine elementare Erfahrung, die das Leben danach nachhaltig prägt. Collins und Kidd setzen den Spuk teils als Bedrohung, teils als Instrument der Befreiung ein: Die von einer Schreibblockade geplagte Schriftstellerin entdeckt die Quelle neuer Inspiration auf dem nahen Friedhof und arrangiert sich mit einem Grauen, das nicht an ihrem Tod interessiert ist. Kidd beschreibt den Leidensweg eines im Waisenhaus ‚gekauften‘ Mädchens, das mit Geisterhilfe ihrem traurigen Schicksal als Sklavin zweier Betrüger entkommt.
Der Schrecken der Nicht-Erkenntnis
Natürlich treiben in dieser Sammlung ganz klassisch auch ausschließlich böse Geister ihr Unwesen. Hurley verwandelt ein altes Theater in eine Todesfalle. Allerdings leistet er seiner Story keinen guten Dienst, indem er sie mit Nebensächlichkeiten überfrachtet; das Trauma des im Zweiten Weltkrieg als Bomberpilot Tod und Zerstörung über deutsche Städte bringenden Protagonisten ist für das Geschehen ebenso unerheblich wie dessen Vaterkomplex oder die Probleme mit dem eigenen Sohn.
Susan Stokes-Chapman verdoppelt das Grauen, indem sie einerseits eine Frau in den Mittelpunkt des Geschehens stellt, die wahrhaft diabolisch Rache an ihrem ehebrecherischen Gatten und seiner Geliebten übt, während andererseits besagter Gatte seinen grausigen Tod nicht hinnehmen mag. Hier greift die Autorin den ‚christlichen‘ Faktor des Horrors auf, der das ‚Fortleben‘ als Geist meist als Strafe für kriminelles oder unmoralisches Treiben zu Lebzeiten beschreibt; ein Ansatz, den auch Catriona Ward und Laura Purcell nutzen. Erstere variiert dies, indem sie die der von zeitgenössischen Vorurteilen gejagten, aber keineswegs unschuldigen ‚Heldin‘ einen ‚persönlichen‘ Dämon zur Seite stellt, der sich von ihren Lügen nährt, in ihr aber eine gewiefte Gegnerin findet und lange auf seine Gelegenheit warten muss.
Hurley, Kidd und Ward erinnern daran, dass wahres Grauen nicht unbedingt das Übernatürliche benötigt. Noch zerstörerischer ist die Heimsuchung durch das eigene Gehirn, wobei vor allem aus gescheiterten Lebensträumen resultierende Frustration sich als hartnäckige Verfolgerin erweist. Wir nehmen die Welt so wahr, wie unser Hirn sie interpretiert. Leistet das Organ seinen Job nicht korrekt, stürzt uns das in einen Horror zur Kenntnis genommener, aber fehlinterpretierter Sinneswahrnehmungen.
Fazit:
Sechs Erzählungen greifen die Tradition der phantastischen Weihnachtsgeschichte auf, wobei diese entweder formal wie inhaltlich imitiert oder modern interpretiert werden. Beinahe jede Story erreicht das gesteckte Ziel, sodass gelungener, gediegener, gut übersetzter und schön gelayouteter Buch-Horror sein Publikum erfreut.
Susan Stokes-Chapman, Jess Kidd, Andrew Michael Hurley, Bridget Collins, Catriona Ward, Laura Purcell, DuMont
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