Mehr Dramen in der Luft
- Edition Dornbrunnen
- Erschienen: Juni 2022
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Ganz oben ohne Netz & doppelten Boden
Es überrascht, dass der Mensch, der das Automobil erst Ende des 19. Jahrhunderts erfand, sich schon ein Jahrhundert früher in die Luft erheben konnte. Der bemannte Flug wirkt als Erfindung wesentlich eindrucksvoller, weil er den Menschen in eine Sphäre entführt, für die er definitiv nicht gebaut ist. Gerade deshalb existierte die Sehnsucht, sich in die Lüfte aufzuschwingen. Auch in Legenden und später in der Literatur tauchte dieser Wunsch immer wieder auf.
Am 21. November 1783 war es soweit: Zwei Menschen bestiegen in Paris einen mit Heißluft gefüllten Ballon - eine Konstruktion der Brüder Joseph und Étienne Montgolfier - und kappten die Halteseile. Sie stiegen auf und kehrten glücklich und vor allem gesund zurück zur Erde. Damit war der Knoten buchstäblich geplatzt. In den nächsten Jahrzehnten erhoben sich weltweit Ballone in oft abenteuerliche Höhen. Zum Heißluftballon gesellte sich sein mit Wasserstoffgas gefülltes Gegenstück, das leichter zu handhaben war. Gefährlich blieb diese frühe Luftfahrt immer, wie zahlreiche Abstürze belegen.
Nichtsdestotrotz übte die Möglichkeit zu fliegen eine erhebliche Faszination auf. Wer es sich leisten konnte (und den notwendigen Mut aufbrachte, der auch in dieser Anthologie stets angesprochen wird), stieg in die unter dem Ballon schwankende Gondel und gönnte sich einen Blick auf die Welt und ihre ameisenkleinen Bewohner. Die Zeitgenossen registrierten, dass viele Passagiere weiblich waren. (Diese Anthologie wird durch einen Brief aus dem Jahre 1798 eingeleitet, der einen solchen Aufstieg beschreibt.) Frauen waren offensichtlich ebenso mutig und neugierig wie Männer, und eine Ballonfahrt galt erstaunlicherweise nicht als unschickliche Betätigung.
Idealer Ort für ein Drama
Sobald Ballone in die Höhe stiegen, wurden Schriftsteller aufmerksam: Hier bot sich ihnen ein ideales Szenario für abenteuerliche Geschichten! Alles, was schwerer als Luft ist, kann und wird krachend zu Boden gehen, sobald etwas schief geht. Ein Ballon ist ein vergleichsweise zerbrechliches Gefährt. Die zeitgenössischen Hüllen waren schwer, windempfindlich und nur bedingt wasserdicht. Unabhängig davon, ob der Ballon mit Heißluft oder Gas gefüllt war, blieb die Gefahr einer explosiven Entleerung permanent. Sturmböen konnten eine Ballonhülle zerreißen, der Ballon gegen einen Berg prallen, bei der Landung über den Boden schleifen oder so hoch aufsteigen, dass den Insassen buchstäblich die Luft ausging: Dies waren Stoffe, aus denen spannende Garne gesponnen werden konnten! (Fantasievoll erweitert Oskar Hoffmann den Kanon möglichen Ungemachs, indem er „Siebentausend Meter hoch in der Luft“ einen riesigen Kondor-Geier den Ballon attackieren lässt.)
Hinzu kommt der menschliche Faktor. Ein Drama entwickelt seine volle Wucht dort, wo es für die Beteiligten keine Möglichkeit gibt, sich ihm zu entziehen. Eine kleine, wacklige Korbhülle ist in dieser Hinsicht die ideale Falle. Wer hier aneinandergerät, muss sich einigen - oder den Rücksturz auf den harten Erdboden riskieren! Hier wird der Ballon mehrfach zum Ort der Abrechnung zwischen verhassten Rivalen, von denen nur einer lebendig wieder herabsteigen wird.
Die in dieser Anthologie versammelten Autoren geben jenem „Drama in der Luft“ den Vorzug, das auf Wahnsinn oder böser Absicht beruht. Tatsächlich wird ein Plot immer wieder aufgegriffen: Der Ballonfahrer startet. Im letzten Augenblick springt jemand zu ihm in die Gondel. Der Passagier entpuppt sich als Irrer, der zunächst „bis zum Mond“ aufsteigen, später in die Tiefe springen und den Ballonführer mit in den Tod reißen will. Daraus entspinnt sich erst eine Diskussion, die in einem tumultartigen Gondel-Kampf mündet.
Besser gut abgeschrieben als schlecht selbst erfunden
Der Herausgeber dieser Anthologie scheint seinen Ehrgeiz daran gesetzt zu haben, möglichst jede Erzählung zu finden, die auf diesen Plot setzt. Thomas Hood (1799-1845) wäre demnach der erste Autor, der die Idee 1841 erstmals verwendet hat; angesichts der oft dürren Überlieferungssituation, unter der die frühe Geschichte der Trivialliteratur leidet, könnte aber schon Hood einer der Schreiber sein, die sich den Plot angeeignet haben. „Copyright“ war in dieser Epoche ein unbekannter, auf jeden Fall aber ignorierter Begriff. Das vor der Internet-Ära herrschende Unwissen darüber, welche Geschichten wo erschienen, half solchen Plagiatoren zusätzlich.
Zu denen gehört überraschend sogar Jules Verne (1828-1905), der das Duell zwischen Ballonführer und Irrsinnigem einerseits ausarbeitete, um beide andererseits in eine angeregte Diskussion über die Geschichte der Luftfahrt bis 1850 zu verwickeln. Der Dramatik ist es durchaus abträglich, wenn Verne die turbulente Story mit Fußnoten spickt und sie ihres Tempos beraubt, bis endlich der Wahnsinn siegt und die Historie dem Kampf um Leben und Tod weichen muss. Insgesamt treibt dieser Plot 13 (!) der insgesamt 22 Erzählungen voran! Manchmal schreibt ein ‚Autor‘ ganz offensichtlich einfach ab, mehrfach wird variiert oder das Ballon-Drama in eine weiter gespannte Handlung eingefügt. Nicht immer springt der Irre aus der Gondel, und einmal schnappt sogar eine Frau an Bord über!
Die Findigkeit des Herausgebers in allen Ehren, doch so gut ist die Idee nicht, dass man wieder und wieder auf sie treffen möchte. Hier hat wohl die theoretische Literaturgeschichte bzw. der Beutedrang des Herausgebers über die Unterhaltung gesiegt. Allerdings hätte es schlimmer kommen können. Glücklicherweise selten werden wir mit jenem Typ von Story konfrontiert, in der die Ballonfahrt nur Mittel zum Zweck ist. So wie heutzutage „Vampire“ oder „Werwölfe“ zu Schmachtgestalten der „Chick-Lit“-Szene geknechtet werden, bedienten sich damals Autoren der Luft-Dramatik, um ansonsten normale, ihren eigenen Regeln folgende Liebesgeschichten aufzupeppen. In dieser Anthologie ist es u. a. Karl May (1842-1912), der durchaus nicht nur klassisch gewordene Wild-West- und Orient-Abenteuermärchen, sondern auch (zu seinem Vorteil in Vergessenheit geratene) Herz-Schmerz-Fetzen verfasste: Es sind vor allem diese sichtlich „auf Länge“ getrimmten Garne, die heutige Leser langweilen, zumal die Gefühlswelt der Vergangenheiten aufgrund ihrer ebenso aufgebauschten wie überwundenen, nun lächerlich wirkenden Drangsale und einer betont schwülstigen Sprache schwer erträglich sind.
Fazit:
Die Möglichkeit zu ‚fliegen‘ schlug sich umgehend in der zeitgenössischen (Trivial-) Literatur nieder. Die Faszination wurde in Kontrast zu den Gefahren dieser Luftfahrt gesetzt, die durch menschliches Versagen angeführt wurden; ein Aspekt, der in dieser interessanten, eine in Vergessenheit geratene Spannungsquelle thematisierende Anthologie ein wenig zu sehr in den Vordergrund gerückt wird.
Sven-Roger Schulz (Herausgeber), Edition Dornbrunnen
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