Schaurige Weihnachten - Klassische Horror- und Geistergeschichten
- Anaconda
- Erschienen: September 2024
- 0
Siebenmal ungebetene Festtagsgäste
Sieben Spukgeschichten erinnern an die Widersprüche des Weihnachtsmythos’:
- Vorwort
- Amelia B. Edwards: Die Geisterkutsche (The Phantom Coach; 1864): Er erfreut, in der winterlichen Einöde von der plötzlich auftauchenden Kutsche aufgelesen zu werden, bis er erkennt, dass der nächste Halt nicht im Diesseits erfolgen wird.
- Sir Arthur Conan Doyle: Der Captain der Pole Star (The Captain of the Pole Star; 1883): Der Walfänger ist im Polarmeer gestrandet, wo der offenbar verrückte Kapitän einem Phantom hinterherjagt, das zwischen den Eisschollen haust.
- Hume Nisbet: Das alte Portrait (The Old Portrait; 1890): Unter dem miserablen Gemälde kommt das exquisite Portrait einer Frau zum Vorschein, das nicht grundlos bemerkenswert lebensecht erscheint.
- Lettice Galbraith: Das Blaue Zimmer (The Blue Room; 1897): Eine mutige Frau löst das unheimliche Rätsel eines spukheimgesuchten Zimmers.
- Edith Nesbit: Das Omen des Schattens (The Portent of the Shadow; 1905): Seit vielen Jahren sucht eine mysteriöse Macht die Familie heim und bringt den Tod über sie.
- Algernon Blackwood: Der Seesack (The Kit-Bag; 1908): Für sein Urlaubsgepäck greift er versehentlich zum Seesack eines Mörders, der davon auch tot nicht lassen will.
- D. H. Lawrence: Wer zuletzt lacht (The Last Laugh; 1925): In der Weihnachtsnacht erscheint der Gott Pan im Londoner Stadtteil Hampton, kommt auf seine rücksichtslos fröhliche Art über die Menschen und sorgt für die nachhaltige Veränderung dreier Leben.
- Quellenverzeichnis
Draußen eiskalt, drinnen noch kälter
In seinem Vorwort beschwört Herausgeber Jochen Veit jene mystische Ära herauf, in der sich zu den Weihnachtstagen Familienmitglieder und Freunde in ländlich abgelegenen, tief eingeschneiten Landhäusern trafen, dort gemeinsam feierten - und sich gruselige Geschichten erzählten! Wir sprechen hier vor allem von der Zeit der scheinbar ewig regierenden Königin Viktoria; die hier gesammelten Geschichten stammen aus England. Unterhaltung war noch ‚handgemacht‘, es gab weder Fernsehen oder Telefon, und digitale Medien konnte sich niemand vorstellen. In unzureichend geheizten Räumen wurde das prasselnde Kaminfeuer zum natürlichen Zentrum. Hier kamen die Hausgäste zusammen und spannen ihre Garne.
Auch wenn zwei der Storys erst nach dem Tod der erwähnten Monarchin entstanden, greifen sie den Inhalt, die Botschaft, den Geist auf - dies kann man wörtlich nehmen. Weihnachten markiert die Geburt Christi, besitzt aber auch eine dunkle Seite: Bevor der Christengott kam, hatten ‚andere‘ Götter das Sagen. Sie standen einer Natur nahe, die der Mensch für lebendig und buchstäblich beseelt hielt. Diese Götter waren unmittelbar. Sie straften drastisch, wenn man gegen ihre Gebote verstieß, und sie forderten nicht nur bedingungslosen Glauben, sondern manchmal auch Opfer. Hinzu kamen jene Wildnis-Kreaturen, die einer jenseitigen Sphäre entstammten und jene Zeitgenossen packten, die das Pech hatten ihnen, über den Weg zu laufen.
Die Erzähler unheimlicher Weihnachtsgeschichten gingen zumindest in der Theorie davon aus, dass der christliche Gott diese Entitäten und Wesen zwar entmachtete und vertrieb, aber nicht vernichtete. Sie suchten sich Nischen, die sie verließen, wenn man sie reizte oder unklug lockte. In dieser Sammlung ist es David Herbert Richards Lawrence (1885-1930), der die (‚heidnische‘) Vergangenheit direkt aufleben lässt: Der große Pan kehrt zurück, und er gibt seiner Missbilligung des aus seiner Sicht sinnenfernen Christenglaubens Ausdruck, indem er eine Kirche verwüstet. Außerdem zeigt er sich drei Menschen, doch er bleibt Pan und ‚erfüllt‘ deren Wünsche nach Liebe und Zweisamkeit auf zwiespältige Weisen: Die Geschöpfe der anderen Welt unterliegen eigenen Gesetzen und Wertvorstellungen. Selbst wenn sie dem Menschen nicht böse gesonnen sind, kann der Kontakt gefährlich sein.
Außen schneit und innen spukt es
Während Lawrence die psychologische Seite des Horrors hervorhebt, belassen es die übrigen Autor/innen bei klassischen Spukereignissen. Unzählige Zeitschriften und Weihnachts-Sonderausgaben mussten vor und nach 1900 mit Inhalt gefüllt werden. Gefordert und geliefert wurde, was die Leser wollten, und das waren Storys mit Geistern und ähnlichen Schreckgestalten. Amelia B. Edwards (1831-1892) glänzt mit einem frühen Beispiel. Zwar greift sie scheinbar eine alte Legende auf und bedient sich einschlägiger Figuren und Szenen. Der Tonfall ist jedoch ‚modern‘, d. h. sachlich und effektorientiert. Der Höhepunkt - die Erkenntnis der Hauptfigur, in einer Kutsche voller lebender Leichen zu sitzen - wird mit beachtlicher, noch heute seine Wirkung nicht verfehlender Eindringlichkeit in Szene gesetzt.
Lettice Galbraith (d. i. Lizzie Susan Gibson, 1859-1932) gelingt das Kunststück, eine Frau zur zentralen Figur einer Geschichte zu machen, die ihr üblicherweise die Rolle der ‚Jungfrau in Not‘ und einen mutigen Mann als Retter zugewiesen hätte. (Erzählt wird die Geschichte übrigens ebenfalls von einer Frau.) Doch hier ist sie es, die sich des Nachts in das Spukzimmer traut und dessen Rätsel löst (obwohl die Autorin dem Zeitgeist sein Opfer bringt und die tapfere, aber im Angesicht des Grauens doch knieweiche Schöne von ihrem späteren Gatten aus dem Raum tragen lässt).
Edith Nesbit (d. i. Edith Bland, 1858-1924) sorgt für Gruselspannung, obwohl sie ihre Leser letztlich im Dunkeln darüber lässt, was die verfluchte Familie wieso heimsucht. Der Spuk ist unheimlich, was sich durch seine Rätselhaftigkeit verschärft. Dass eine Story ihren Grusel keineswegs einbüßen muss, obwohl im Finale Herkunft und Grund des Erscheinens gelüftet werden, beweist Algernon Blackwood (1869-1951). Er hat sich literarisch immer wieder mit dem Phänomen der Angst beschäftigt und ihm einzigartige Durchschlagskraft verliehen. Auch dieses Mal geschieht lange scheinbar nichts, während Blackwood die Bühne vorbereitet, auf der er sein Publikum gemeinsam mit der Hauptfigur aufmerksam, misstrauisch und dann panisch werden lässt.
Böse und gute Überraschungen
James Hume Nisbet (1849-1923) legt eine gute, klassische Geistergeschichte vor. Anders als bei Blackwood fehlt freilich der stimmungsvolle Aufbau des Horrors. Nisbet bleibt konventionell und geht zu hastig vor, indem er das Grauen unvermittelt von der Kette und dessen Opfer allzu ungeschoren lässt. Dies gilt in gewisser Weise auch für Arthur Conan Doyle (1859-1930), zumal sein Garn ein nie gestopftes Logikloch aufweist: Obwohl sich das spukauslösende Unglück in England ereignet hat, taucht das Gespenst ausgerechnet im Polarmeer auf! Allerdings sorgt Doyle für Ausgleich, indem er die eisige Kulisse geschickt in den Dienst seiner Handlung stellt.
Die deutsche Ausgabe stellt auch als Buch eine angenehme Überraschung dar. Zum einen sammelt es Erzählungen, die nicht schon tausendfach aus anderen Publikationen bekannt sind; neu übersetzt wurden sie außerdem. Zum anderen wird „Gruselige Weihnachten“ sogar fest gebunden als erfreulich wohlfeiles Buch angeboten. Hier kann also bei gewecktem Interesse risikolos zugegriffen werden.
Fazit:
Sieben Erzählungen aus dem Zeitraum 1864 bis 1925 lassen die große Zeit der klassischen englischen Geistergeschichte aufleben. Die Auswahl ist repräsentativ, der Gruselgehalt hoch: ein schönes, zudem kostengünstiges Weihnachtsgeschenk für die Freunde des altmodischen bzw. zeitlosen Spuks.
Jochen Veit (Herausgeber), Anaconda
Deine Meinung zu »Schaurige Weihnachten - Klassische Horror- und Geistergeschichten«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!