Das Milliarden-Gehirn

  • Heyne
  • Erschienen: Januar 1965
  • 0
Das Milliarden-Gehirn
Das Milliarden-Gehirn
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonOkt 2024

Der Säufer & die Super-Intelligenz

Die „Medusa“ ist eine Kollektivintelligenz aus den Tiefen des Weltalls. Sie schickt Sporen aus, die durch den Raum treiben, bis sie einen Planeten erreichen, auf dem Leben möglich ist. Die Sporen nisten sich in den Hirnen ihrer Wirte ein und kontaktieren Medusa, die anschließend die geistige Herrschaft über diese Spezies übernimmt.

So funktionierte es jedenfalls, bis eine dieser Sporen die Erde erreicht. Nie hat die außerirdische Intelligenz eine Lebensform kennen gelernt, die aus separat denkenden und handelnden Individuen besteht. Dieses Konzept ist Medusa völlig fremd, und sie hält es für einen biologischen Defekt, den sie zu beheben gedenkt.

Der Zufall will es, dass Medusas Spore sich ausgerechnet im Hirn des Säufers und Wirrkopfs Dan Gurlick festsetzt. Sie kann es nicht verlassen und muss sich mit den Verhältnissen arrangieren. Mit Zuckerbrot und Peitsche bringt Medusa den widerstrebenden Gurlick dazu, ihr erstens Informationen über die Funktionsweise des menschlichen Gehirns und zweitens Rohstoffe und Gerätschaften zu beschaffen, mit denen sie eine Apparatur konstruiert, die es ihr ermöglicht, alle Menschenhirne der Erde ‚zusammenzuschalten‘: Die Menschheit verschmilzt zum „Milliardenhirn“ und wird Teil des Medusa-Kollektivs ...

Mancher Plan scheint vollkommen ...

Es beginnt als übliche Geschichte von der Invasion aus dem All, die man schon oft gelesen hat und immer wieder gern liest. Theodore Sturgeon gab ihr den Titel „The Cosmic Rape“, was durchaus unheilvoll klingt. Allerdings stellen sich beim Leser rasch Momente der Irritation ein, denn die Story nimmt nur scheinbar den bekannten Verlauf.

Invasoren aus dem Weltall haben die Menschheit schon in unzähligen Romanen und Filmen überfallen. Vor allem in den 1950er Jahren stand meist böse Absicht dahinter. In Vertretung der Sowjetunion oder Chinas wollten solche Eindringlinge die freien Menschen der Erde (= die Bürger der USA und ihre Verbündeten) unterjochen. Das will Medusa zwar ebenfalls, doch treibt sie eine seltsame Mischung aus Unverständnis und gutem Willen an.

Sturgeon postuliert eine Galaxis, in der das Leben als Kollektiv agiert. Man muss sich dies wie einen Bienenstock oder Ameisenhaufen vorstellen: Das einzelne Insekt ist nichts; erst der Schwarm bringt Gewaltiges zu Stande. Hier ist die menschliche Individualität der Fremdfaktor. Medusa kann nicht begreifen, dass der einzelne Mensch eigene Entscheidungen trifft und gleichzeitig in der Gemeinschaft lebt, ohne seine Eigenheit aufzugeben. Also schafft sie Abhilfe. Ihr Feldzug ist eher eine Rettungsaktion. („Star-Trek“- Kenntnisse im Borg-Bereich sind zum Verständnis des Konzepts hilfreich.)

Von einer ‚Invasion‘ kann nicht geredet werden. Sturgeon macht deutlich, dass Medusas ‚Opfer‘ nicht absorbiert = aufgelöst, sondern eingegliedert wurden: Ein Kollektiv geht in einem noch größeren Kollektiv auf: ein in Medusas Welt völlig normaler Vorgang, der nur im Falle der Menschheit zum „cosmic rape“, zur „Vergewaltigung aus dem Weltall“ wird.

Medusas Sporen treiben blind durch das All. Von einer gezielten ‚Eroberung‘ kann keine Rede sein. Kein Außerirdischer wird die Erde betreten, Medusas gigantischer Kollektivkörper bleibt, wo er ist - nämlich überall und nirgends. Medusa muss nicht körperlich anwesend sein, da sie ihre ‚Glieder‘ per Gedankenkraft lenkt, die sie ungeachtet der Entfernung unmittelbar erreicht.

... um dennoch zu scheitern

Medusa erleidet Schiffbruch, weil sie nie wirklich versteht, wie der Mensch funktioniert. Deshalb begreift sie auch nicht die Ungunst ihrer Ausgangslage, als sie ausgerechnet Dan Gurlick als Relais verwendet, der nicht nur ein Außenseiter, sondern geradezu der Inbegriff des Einzelgängers ist. Medusa benutzt ihn, aber er reagiert kontraproduktiv.

Sturgeon verdeutlicht die Vielfalt der menschlichen Individualität, indem er die Schicksale weiterer Personen schildert: Guido ist eine Kriegswaise in Italien, Mbala ein afrikanischer Ureinwohner, Sharon Brevix ein vierjähriges Mädchen, das in der Wüste verlorengeht. Sie und andere Menschen verlieren als „Milliardengehirn“ keineswegs ihre gedankliche Selbstständigkeit. Stattdessen formen sie das Kollektiv zu einem Instrument um, das die negativen Seiten des Menschseins - Einsamkeit, Missverständnis, Eigennutz - ausfiltert und ein weltweites Über-Ich bildet, zu dem alle Menschen Zugang haben, ohne dabei ihre Individualität zu verlieren.

Das ist so, wie Sturgeon es schildert, ein erstaunlicher, fast poetischer Vorgang. Nicht einmal Medusa selbst kann sich dem entziehen; sie entwickelt sich gemeinsam mit der Menschheit weiter. Zum Schluss haben alle etwas von dieser seltsamen Invasion. Nationalitäten oder gar Grenzen sind obsolet und der Mensch nicht nur Mensch geblieben, sondern wesentlich menschlicher geworden. Das klingt besonders für den zynischen Leser der Gegenwart naiv oder sogar lächerlich, ist es aber nicht, denn Sturgeon ist ein wortgewandter Autor, der Schmalz und Gefühlsduselei durch starke Bilder und plastische Charaktere ersetzt. Die perfekte Mischung aus Ernst und Leichtigkeit hat sogar die Übersetzung überstanden.

„Fiction“ ohne „Science“

Theodore Sturgeon (als Edward Hamilton Waldo am 26. Februar 1918 geboren und am 8. Mai 1985 einer Lungenentzündung erlegen) hat sich nie besonders um die ‚Technik‘ der Science Fiction gekümmert. Er stellte die den Menschen der Zukunft in den Mittelpunkt.

Folgerichtig drückt er sich um eine ‚logische‘ Erklärung der Mechanismen, mit denen Medusa ihr Invasionswerk vorantreibt. Allerdings zieht sich Sturgeon überaus elegant aus der Affäre: Er beschreibt, wie sich Alien-Technik quasi selbst kreiert, um dies ansonsten unkommentiert zu lassen. Was dort entsteht, ist sichtlich unwichtiger als die Folgen für die Menschheit.

So verwundert nicht, dass Sturgeon auf den „Hard-SF“-Ballast verzichten kann, mit dem die eher naturwissenschaftlich ausgerichteten Autoren des Genres ihre Werke aufblähen. Sturgeon kommt mit dem „Milliarden-Gehirn“ nach 160 Seiten (im Original und in der deutschen Übersetzung) zu einem plausiblen Ende. Greg Bear, der die Menschheit 1985 in „Blood Music“ (dt. „Blutmusik“) ebenfalls ‚verschmelzen‘ ließ, benötigte mehr als das doppelte Volumen, um nur halb so intensiv zu überraschen ...

Anmerkung

„The Cosmic Rape“ basiert auf der Novelle „To Marry Medusa“, die ebenfalls 1958 in der August-Ausgabe des Magazins „Galaxy Science Fiction“ erschien. Sturgeon baute sie quasi zeitgleich zum Roman aus, der - nichts ist einfach auf dieser Welt - später neu aufgelegt den Titel der Novelle ‚übernahm‘ und seither gern mit dieser verwechselt wird.

Fazit:

Scheinbar klassische Invasions-SF, die eine völlig unerwartete Wendung nimmt und die Klischees des Genres ebenso einfallsreich wie witzig auf den Kopf stellt: ein richtig guter Roman, der unverdient in Vergessenheit geraten ist.

Das Milliarden-Gehirn

Theodore Sturgeon, Heyne

Das Milliarden-Gehirn

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