Kleines Schiff im Strom der Zeit

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1975
  • 0
Kleines Schiff im Strom der Zeit
Kleines Schiff im Strom der Zeit
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Michael Drewniok
75°1001

Phantastik-Couch Rezension vonSep 2024

Auf hoher See ins tiefe Mittelalter

Leutnant zur See Joseph Reet machte keine Karriere in der US-Navy, sondern muss froh sein, als Kapitän den Kutter „Alice“ ‚kommandieren‘ zu dürfen. Das alte, hölzerne Segelschiff wird eingesetzt, wenn Wissenschaftler auf See Experimente durchführen wollen, die an Bord moderner Navy-Schiffe von der Hightech beeinträchtigt würden.

Forscher sind notorisch schwer zu kontrollieren; sie machen, was sie wollen. Auch Reets Mannschaft ist geschickt darin, dem gelangweilten Kapitän ihre unerlaubten Aktivitäten vorzuenthalten. Deshalb wird Reet wie alle an Bord der „Alice“ überrascht, als während eines schweren Gewitters ein Blitz in den verbotenen Destillierapparat einschlägt; die Matrosen wollten damit Schnaps brauen.

Die Entladung schleudert die „Alice“ um den Atlantik und durch die Zeit. Eine erste Begegnung mit einem Kriegsschiff der Wikinger verrät den Männern, dass man wohl im Jahre 990 nach Christus gelandet ist; dies bestätigt auch die Besatzung eines Handelsschiffs. Von dort steigt die befreite Sklavin Raquel auf die „Alice“ um, was aufgrund ihrer Wohlgestalt für Stress unter der rein männlichen Besatzung sorgt.

Reet ist nicht nur Seemann, sondern auch selbst Wissenschaftler. Er hat eine Theorie: Können sie die Macht der Destille nutzen, um die „Alice“ zurück in die Gegenwart zu befördern? Man steuert eifrig mitten in ein Gewitter. Ein Blitz schlägt in den Brenner ein, der ‚Sprung‘ gelingt, aber als sich der Nebel lichtet, ist man inmitten einer Flotte der Mauren gelandet, die stets daran interessiert sind, Schiffe zu kapern und deren Besatzungen zu versklaven ...

Was schief gehen kann ...

José Mario Garry Ordoñez Edmondson y Cotton (1922-1995) ist eine der interessanten Randgestalten der Science Fiction. Sein Genre-Werk ist vergleichsweise schmal, die Palette seiner Interessen breit, wie eine Reihe von Sachbüchern belegt, die vor allem in die Kategorie Maschinenbau fallen. Hier spiegeln sich auch jene Jahre (1942-1946) wider, die Edmondson im Dienst der US-(Kriegs-) Marine verbrachte. Hinzu kommen Western-Romane, die Edmondson unter drei Pseudonymen verfasste.

Seit 1955 schrieb er Kurzgeschichten. Früh wurde deutlich, dass Edmondson Spannung und Anspruch mit einer Prise Humor zu würzen bzw. die Bitterkeit der Botschaft auf diese Weise zu mildern verstand. Eine Serie von Erzählungen, die turbulente und die Gesetze der Realität (sowie die Vorschriften von sich selbst überzeugter Obrigkeiten) hinter sich lassende Abenteuer einer mysteriösen Figur namens „Mad Friend“ präsentierte, bescherte dem Verfasser erste Aufmerksamkeit.

Diese Mischung aus (gut recherchiertem) ‚Ernst‘ und Witz prägte auch Edmondsons ersten Roman. „Kleines Schiff im Strom der Zeit“ thematisiert die schon vor der offiziellen Geburt der Science Fiction literarisch aufgegriffene Konfrontation zwischen moderner Gegenwart und einer Vergangenheit, die sich als überraschend gegenwartstaugliche Ära jenseits bekannten Geschichtsbuchwissens entpuppt und den scheinbar überlegenden Nachfahren unerwartete Schwierigkeiten bereitet. (Vielleicht das bekannteste Beispiel ist Mark Twains „A Connecticut Yankee in King Arthur's Court“, 1889; dt. „Ein Yankee aus Connecticut am Hof von König Artus“.)

Vergangenheit mit unerwarteten Tücken

Man sollte erwarten, dass die Besucher aus der Zukunft groß auftrumpfen, ihre technologische Überlegenheit ausspielen und sogar die Gelegenheit nutzen, diverse Unerfreulichkeiten der Vergangenheit zu korrigieren; so geschah es beispielsweise 1980 breitbeinig im (US-) Kino, als der Flugzeugträger „Nimitz“ ins Jahr 1941 zurückversetzt wurde und Kapitän Kirk Douglas die Gelegenheit nutzte, den Japanern den Überfall auf Pearl Harbor heimzuzahlen. Allerdings sorgte solche Übermacht für Langeweile, denn Spannung kommt nur auf, wenn sich Kontrahenten zumindest ebenbürtig sind.

Auf die „Alice“ unter ihrem Kapitän Reet trifft dies definitiv zu. Autor Edmondson lässt klug ein Schiff den Zeitstrom hinabsegeln, dass mehr oder weniger zeitlos und in erster Linie seetüchtig ist. Die angetroffenen Boote der Wikinger, Spanier oder Mauren können es durchaus mit der „Alice“ aufnehmen, die zwar einen Motor besitzt und ihren Gegner davondampfen kann (solange der Treibstoff reicht), aber ansonsten unbewaffnet sowie so besatzungsschwach ist, dass diese Tatsache tunlichst verschleiert werden muss.

Daraus resultiert ein stets taugliches Spannungselement: Reet und seine Crew müssen sich zusammenraufen und den Grips anstrengen, um nicht gekapert, versklavt oder über Bord geworfen zu werden. Da der Mensch des Jahres 1000 dem Menschen der Zukunft geistig ebenbürtig ist, bleibt das Verhältnis ausgeglichen. Gewalt ist keine Option, List und notfalls Tücke sind die Instrumente einer Kommunikation, die zusätzlich von der Notwendigkeit geprägt ist, die Anwesenheit der Zukunft in der Vergangenheit zu vertuschen, um nicht die Gegenwart zu verändern: Selbstverständlich würde die Geschichte eine unerwartete Entwicklung erfahren, könnten die Mauren das Geheimnis des Dieselmotors lüften!

Der Mensch ist und war Mensch

Der menschliche Verstand funktioniert auch in der Vergangenheit ausgezeichnet. Dies erschwert das Lavieren zwischen selbstbewusster Präsentation und Geheimhaltung. Reet ist ein Mann, dessen Anführertalent durch eine unbefriedigende Laufbahn verschüttet wurde; nun ist er ‚erwacht‘ und läuft zur Höchstform auf, was jedoch weder irrtümliche Einschätzungen noch die Tücken des Schicksals auffangen kann. Hinzu kommen die Eskapaden einer Besatzung, die den Ernst der Lage entweder nur in Ansätzen begreift oder allzu intensiv verinnerlicht und deshalb zu Kurzschlusshandlungen neigt.

Ein ständig um die Zündschnur tanzender Funken ist die schöne Raquel, die in diesem Roman von 1965 noch „ganz Frau“, also unbeherrscht und unberechenbar sein ‚darf‘. Dass ihre Anwesenheit auf einem Schiff voller emotional grob gestickter Seebären für ‚erotische‘ Probleme sorgt, ist ein Klischee, das seit jeher Handlungsverwicklungen in Gang setzen und halten muss. Aus dieser staubigen Schublade stammt auch Raquels offensive Fixierung auf den armen Reet, der ‚natürlich‘ seinen Männern als Vorbild dienen ‚muss‘ sowie von der Sittenaufweichung der „Swinging Sixties“ nicht befallen wurde.

Die Kommunikation mit den Menschen der Vergangenheit wirkt entweder erstaunlich ‚modern‘ oder einfach realistisch, wenn man akzeptiert, dass der Autor u. a. Sprachbarrieren mehr oder weniger ignoriert bzw. sie recht problemfrei auflöst: Dieser Roman ist (auch im Original) nicht seitenstark, weshalb Edmondson viele Probleme einer ‚realen‘ Zeitreise ausblenden muss, um die Handlung voranzubringen. Ansonsten geht der Autor davon aus, dass Seeleute zu allen Zeiten praktische Menschen sind, was einer Verständigung förderlich sein dürfte.

„Kleines Schiff ...„ ist sicherlich kein Meilenstein der Science Fiction, doch im Rahmen des gewählten Plots leistet Edmondson durchweg gute Arbeit. Dies sorgte dafür, dass die „Science Fiction and Fantasy Writers of America“ diesen Roman 1966 für den ersten „Nebula Award“ nominierten. (Gewonnen hat allerdings ein anderer Titel.) „Kleines Schiff ...„ blieb das erfolgreichste Werk des Verfassers, weshalb nicht erstaunt, dass er den Plot 1981 noch einmal aufgriff und den erprobten/geprüften Reet in „To Sail the Century Sea“ abermals in die Vergangenheit segeln/dampfen ließ.

Fazit:

Kurzweilig und einfallsreich beschreibt der Autor eine unfreiwillige Zeitreise voller technisch bedingter, aber auch menschlich verursachter Tücken. Viele Klischees dieses SF-Genres werden humorvoll bedient oder gegen den Strich gebürstet: ein kleiner, aber feiner Klassiker.

Kleines Schiff im Strom der Zeit

G. C. Edmondson, Goldmann

Kleines Schiff im Strom der Zeit

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