Blair Witch Project - Ein Dossier

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1999
  • 0
Blair Witch Project - Ein Dossier
Blair Witch Project - Ein Dossier
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonAug 2024

Sie waren jung, neugierig und naiv

Die Black Hills im nordöstlichen US-Staat Maryland waren (und sind) dicht bewaldet und abgelegen. Dennoch haben sich schon früh Siedler hier niedergelassen. Nicht immer trug ihr Bemühen um eine neue Heimat Früchte. Das unwirtliche Klima, aber auch ‚importierte‘ Konflikte sorgten für Streitigkeiten und Uneinigkeit. Nicht selten endete eine hoffnungsvoll gegründete Siedlung tragisch.

Ende des 18. Jahrhunderts traf es das Dorf Blair. Hier beschuldigten Kinder die aus Irland eingewanderte Elly Kedward, sie in ihr Haus gelockt und Blut abgezapft zu haben. Kedward wurde als Hexe angeklagt und im Winter des Jahres 1785 aus Blair in den Wald getrieben, wo Hunger und Kälte sie umbringen sollten; die braven Bürger wollten sich die Hände nicht blutig machen.

Kedward überlebte, wurde später entdeckt und grausam getötet. Sollte sie es bisher nicht gewesen sein, wurde sie nunmehr zur Hexe, die in den folgenden Jahrzehnten immer wieder Kinder aus Blair verschleppte und im Rahmen magischer Rituale umbrachte. Die Nachstellungen waren so intensiv, dass Bewohner Blair in Panik verließen und ihre Stadt aufgaben.

Spätere Siedler gründeten sie als „Burkittsville“ neu. Sie ahnten nicht, dass die Hexe als böser Geist mit Macht über Zeit und Raum weiterlebte. Noch im 20. Jahrhundert brachte sie sich in Erinnerung. 1941 ermordete der Sonderling Rustin Parr in seiner einsamen Hütte im Wald sieben Kinder. Er stellte sich der Polizei und behauptete, die Hexe sei ihn ihn gefahren.

Mehr als fünf Jahrzehnte später machen sich die Studenten Heather, Joshua und Michael auf den Weg in die Black Hills, um vor Ort für einen Dokumentarfilm über die Blair-Witch-Legende zu recherchieren. Sie stoßen tatsächlich auf geheimnisvolle und zunehmend beunruhigendere Spuren einer übernatürlichen Präsenz. Bald stellt das Trio fest, dass es von der Außenwelt abgeschnitten ist und verfolgt wird.

Heather und ihre Begleiter werden nie wieder gesehen. Monate später findet man Videobänder, die sie vor und während ihrer planlosen Flucht durch den Wald zeigen. Ihr Schicksal bleibt ungeklärt, die Gruppe reiht sich ein in die Schar derer, die der Hexe von Blair zum Opfer fielen ...

Idee mit Folgen

Es war einmal = 1993, als Daniel Myrick und Eduardo Sánchez, zwei Filmstudenten der University of Central Florida, einen ganz besonderen Horrorfilm planten. Sie organisierten nicht nur die Dreharbeiten, sondern bereiteten das Feld für ihren Gruselstreifen, der auf dem umkämpften Filmmarkt schon wegen des mageren Budgets wahrscheinlich spurlos untergegangenen wäre, systematisch und unter kluger Nutzung eines noch recht jungen Mediums vor: Das Internet hatte seinen Siegeszug gerade begonnen.

Immer größere Datenmengen ließen sich online übertragen, was Myrick und Sánchez nutzten, um eine Website einzurichten, die sie mit gefakten ‚Informationen‘ über eine Hexe füllten, die angeblich seit Jahrhunderten in den dichten Wäldern um das Städtchen Burkittsville im US-Staat Maryland ihr Unwesen trieb. Myrick und Sánchez investierten viel Mühe in diese Website und stellten dort überzeugend erfundene ‚Dokumente‘, zeitgenössische ‚Quellen‘ - Bücher, Zeitungen, Tagebücher, Polizeiberichte - sowie sogar Zeichnungen und Fotos ein, die eine Verwurzelung der Blair-Witch-Legende in der US-Folklore unterstreichen sollten.

Diese „virale“ Werbung sorgte 1998 für enormes Aufsehen, wurde unzählige Male aufgerufen (sowie gern kopiert). Auf diese Weise war das Thema bereits in vieler Munde, bevor Anfang 1999 der Film in die Kinos kam und dort so einschlug, dass er eine dreistellige Millionensumme einspielte. Angesichts des winzigen Budgets wurde „Blair Witch Project“ zu einem der lukrativsten Filmproduktionen aller Zeiten - und (selbstverständlich) zum Start eines Franchises, das sämtliche Medien in Anspruch nahm, um weitere Erträge zu generieren.

Böse Zauberin mit eigenem Biografen

Auch im 21. Jahrhundert gehört das gedruckte Buch noch zu den potenziellen Einnahmequellen. Flugs wurde deshalb ein „tie-in“ = „Buch zum Film“ in Auftrag gegeben. Zu erwarten und zu befürchten war die übliche, d. h. schnell und schlampig mit Füllselpassagen gepimpte Romanfassung des Drehbuchs. Allerdings entschied man sich dafür, auf den viralen Werbezug aufzuspringen. Zwar war David A. Stern, den man als Verfasser anheuerte, bisher bekannt für die Produktion schnell heruntergeschriebener „tie-ins“. Hier legte er sich jedoch ins Zeug und orientierte sich geschickt an der fragmentarischen Struktur der Legende und am Film, der als lückenhafte Found-Footage-„Mockumentary“ gedreht wurde.

Stern griff auf das bereits vorhandene ‚Quellenmaterial‘ über die Hexe von Blair zurück und ergänzte es mit eigenen Texten; hier vor allem Auszügen aus dem Tagebuch der später verschwundenen Studentin Heather, die schon vor dem verhängnisvollen Gang in die Black Mountains von der Hexe besessen zu sein scheint. Zudem reiste Stern angeblich selbst nach Burkittsville, um dort Polizisten, Detektive, Bürger u. a. Personen zu befragen, die mit den Studenten zusammengekommen waren oder etwas über den Mythos zu erzählen hatten.

Das Plus an solchen Als-ob-Infos macht es nicht etwa möglich, das offene Ende des Films mit Aufklärung zu füllen. Tatsächlich sorgt Stern geschickt dafür, dass die von ihm in Erfahrung gebrachten ‚Fakten‘ neue Fragen aufwerfen und ein Hintergrundgeschehen andeuten, das weit über die Ereignisse der Jahre 1994 - hier verschwanden die Studenten - und 1999 - hier wurden ihre Videos und weitere Hinterlassenschaften im Wald gefunden – hinausweist; ein Schachzug, der auch dem zukünftigen Franchise Nutzen bringen und weitere Expeditionen ins Reich der Hexe von Blair vorbereiten soll.

Hexenschüsse in den Ofen

In diesem Sinn entstand in rascher Folge eine ganze Serie weiterer „Dossiers“, die sich weiteren Aspekten der Legende widmeten. Myrick und Sánchez hatten eine kommentierte Chronologie geschaffen, die mehr als zwei Jahrhunderte zurück in die Vergangenheit von Burkittsville/Blair reichte. Die darin nur angedeuteten Geschehnisse wurden literarisch aufgegriffen sowie miteinander verwoben.

Was auf dem Papier sowie im Internet gut funktionierte, scheiterte ausgerechnet im Kino kläglich. Myrick und Sánchez waren sich der Grenzen des Found-Footage-Films bewusst. Die obligatorische Fortsetzung wurde 2000 als ‚normaler‘ Spielfilm gedreht. Er konnte den (Überraschungs-) Erfolg des Vorgängers nicht wiederholen, weshalb ein eigentlich angedachter Teil 3 nicht bzw. erst 2016 entstand. Wiederum wollte sich der erhoffte Sauerstoffstoß ins müde schwelende „Blair-Witch“-Feuer nicht einstellen. Für den könnte die in der Vorproduktion befindliche Serie sorgen, die das Firmenduo Lionsgate und Blumhouse wie heutzutage üblich nicht mehr im ‚normalen‘ Fernsehen zeigen, sondern streamen wird.

Fazit:

Das „Buch zum Film“ bietet viel mehr als eine Nacherzählung der Vorlage, sondern baut den Mythos eigenständig weiter aus. Die geschickte Mischung aus Horror und ‚Dokumentation‘ funktioniert auch auf dem Papier und vertieft das Vergnügen an einer faktisch aus der Luft gegriffenen ‚Legende‘.

Blair Witch Project - Ein Dossier

David A. Stern, Goldmann

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