Was die Nacht verschweigt

  • Cross Cult
  • Erschienen: November 2024
  • 0
Was die Nacht verschweigt
Was die Nacht verschweigt
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2024

Gespensterbedingte Atemnot in düsterer Nacht

Nachdem sie sich für eine Weile in Paris niedergelassen hatte, kehrt Ex-Soldatin Alex Easton in ihr Heimatland zurück. Dorthin zog es sie eigentlich nicht, denn sie verbindet unerfreuliche Erinnerungen an Gallazien. Das irgendwo auf dem Balkan gelegene Land gilt als arm und rückständig, seine Bewohner sind notorisch abergläubisch und misstrauisch, was Landsleute ausdrücklich einschließt. Easton wäre sicherlich nicht ‚heimgekehrt‘, hätte sich nicht eine Freundin, die Amateur-Biologin Eugenia Potter eingeladen; sie möchte die gallazische Pilzwelt studieren.

Wohl oder übel macht sich Easton gemeinsam mit ihrem ehemaligen Offiziersburschen, Mentor und Freund Angus auf nach Wolfsohr, jenes Dörflein, das unweit der alten Jagdhütte liegt, die sie von einem Verwalter bewohnen und instandhalten lässt. Doch Codrin ist schon vor Monaten gestorben, und dies unter Umständen, die in Wolfsohr für Unruhe sorgen. Niemand mag Easton Näheres erzählen; sie kann froh sein, eine knurrige Witwe in Geldnöten und ihren Enkel als Köchin und Hilfskraft anzuheuern.

Miss Potter ist schon eingetroffen, als Easton endlich erfährt, wieso man das Jagdhaus meidet: Dort soll eine Moroi ihr Unwesen treiben - das Gespenst einer Frau, die auf eine Weise den Tod fand, die sie nicht nur umgehen lässt: Die Moroi sucht sich menschliche Opfer, setzt sich in der Nacht auf deren Brust und saugt ihnen die Atemluft aus den Lungen, bis sie entkräftet sterben. So attackiert die Kreatur den Enkel der Köchin und dann Easton, die sich etwas einfallen lassen muss, um ihr qualvolles Ende zu verhindern ...

Wieso ändern, was funktioniert?

Professionelle (und fleißige) Schriftsteller wie T. Kingfisher (alias Ursula Vernon) sind es gewohnt, das Eisen zu schmieden, solange es heiß ist: Stellt sich ein Titel als Erfolg heraus, sind sie für eine (hoffentlich ebenso lukrative) Fortsetzung offen. Da ein erster Roman mit der Hauptfigur Alex Easton auf ein breites Publikumsinteresse stieß, ließ sich die Autorin mit einer Fortsetzung nicht viel Zeit.

Wir treffen die (überlebenden) Protagonisten aus der Vorgeschichte - Easton, ihren Begleiter Angus sowie Eugenia Potter - wieder. Die bekannten Charaktere werden aufgegriffen und vorsichtig vertieft, was in erster Linie Alex Easton betrifft, während Angus und Miss Potter sich auf übliche Nebenfigur-Routinen - mühsam maskierte Freundschaft bzw. präfeministisch durchsetzte Forscherneugier - beschränken.

Die Rückkehr nach Gallazien ist eine ideale Gelegenheit, näher auf Eastons Vergangenheit einzugehen. Sie stammt aus ‚besseren Kreisen‘, ist aber den Fesseln traditioneller Konventionen, in die sie als Frau zu geraten drohte, durch die ‚Flucht‘ zum Militär entgangen. Das ist in Gallazien auch Bürgerinnen möglich, die auf diese Weise eine ansonsten kaum existierende Gleichberechtigung erfahren. Mit der missbilligenden Familie hat Easton gebrochen, womit sie sich gleitend in jenen tatkräftigen, aber emotional angeschlagenen Außenseitertypus verwandelt, der die Heldenrolle in einer solchen Geschichte quasi definiert.

Willkommen im Land der (zu Recht) Unzufriedenen

Das inhaltliche Konzept ist geblieben; selbstverständlich, denn man rühre nicht an dem, was die wankelmütige Leserschaft erfreuen konnte! Easton wird also abermals mit dem Übernatürlichen konfrontiert. Die Ereignisse spielen einige Monate nach dem Fall des Hauses Usher (geschildert in „Was die Toten bewegt“), aber weiterhin in den letzten Jahren des 19. Jahrhunderts sowie in einem Europa, dessen Landkarte mit fiktiven Ländern wie „Ruritanien“ oder eben „Gallazien“ gespickt ist; die Autorin greift hier eine Tradition zeitgenössischer Abenteuerromane auf, die gern in Operettenstaaten verortet wurden: Deren politischen Systeme und Gesellschaftsordnungen konnten nach Belieben gestaltet (bzw. parodiert) werden.

Kingfisher widmet Land und Leuten mehr Raum als im ersten Teil. Tatsächlich findet man sich als Leser bereits tief im zweiten Buchdrittel wieder, als der angekündigte Spuk, den „die Nacht verschweigt“, sich endlich manifestiert. Zuvor schwelgt Kingfisher in bizarren ‚Fakten‘, Mythen und Anekdoten, die sich um Gallazien im Allgemeinen und Wolfsohr im Speziellen ranken. Da sie sich sehr einfallsreich zeigt und das seltsame Land und seine Bewohner mit trockenem Humor zu beschreiben weiß, stellt sich trotz ausgiebiger Abwesenheit übernatürlichen Schreckens keine Langeweile ein.

Weiterhin wird deutlich, dass Easton - s. o. - eine versehrte Seele ist. Nicht nur die gallazische Vergangenheit hängt ihr nach. Das Militär hat ihr persönliche Freiheit verschafft, doch sie den inneren Frieden gekostet. Kingfisher ist ein Kind des 21. Jahrhunderts und lehnt jegliche Verklärung des Militärs und des Krieges ab. An diversen Fronten hat Easton Schreckliches erlebt, was durch arrogante, unfähige Vorgesetzte verschärft wurde. Entsprechende Erinnerungen suchen sie als Flashbacks heim, was im letzten Viertel dieser Geschichte in den Vordergrund rückt, als die finale Auseinandersetzung mit der Moroi sich als Fronterlebnis ‚tarnt‘ und Easton doppelt unter Druck setzt.

Das Leben nach dem Tod unterliegt komplizierten Regeln

Der Spuk im Jagdhaus passt in dieses Umfeld. Die Moroi wurde das Opfer eines nie gesühnten Verbrechens. Das hält sie nicht davon ab, ebenfalls unschuldige Zeitgenossen heimzusuchen. Sie steckt in ihrer Zwischenwelt fest und differenziert nicht zwischen Gut oder Böse. Auch Erlösung sucht die Moroi nicht. Easton glaubt dies irrtümlich und unternimmt entsprechende Schritte, die jedoch nicht zur Seelenrettung der Moroi führen, sondern dieser endgültig den Übergang ins nächtliche Diesseits ermöglichen, woraufhin sie lebensgefährlich wird.

Hier rächt sich Eastons Unwissen über die Heimat bzw. deren Folklore. Außerdem braucht es seine Zeit, sie als Mensch einer aufgeklärten Moderne von der ‚Realität‘ der Moroi zu überzeugen. Bis es soweit ist, sorgt Kingfisher für verheißungsvoll unheimliche Andeutungen und schürt das Grauen, bis es im Finale endlich auflodert. Die Auflösung des Dramas wirkt unspektakulär und kommt ein wenig (zu) unvermittelt. Kingfisher beantwortet nicht alle offenen Fragen und erklärt dies mit dem an ihre Figuren weitergegebenen Unwissen über die Regeln, denen jenseitiges Un-Leben unterliegt.

Das Ende ist ein neuer Anfang: Alex und Angus (und Eugenia) machen sich wieder auf den Weg. Wohin es sie auch verschlagen mag, sie können dort problemlos auf einen anderen Spuk stoßen. Sachter Horror, viel Grusel-Atmosphäre, eine nicht künstlich in die Länge gezogene Story und vor allem die Abwesenheit genrefern breitgetretenen Liebesgetändels sorgen nicht nur in der dunklen Jahreszeit für eine unterhaltsame Lektüre.

Wie schon der erste Band der Easton-Serie ist auch die (deutsche Ausgabe) dieses Buches fest gebunden, mit einem Papierumschlag ausgestattet, aufwändig und hübsch gestaltet, dazu (von der Autorin unter ihrem Realnamen) illustriert und schön gedruckt.

Fazit:

Ein neues Reiseziel = ein neuer Spuk, dem es sich zu stellen gilt - T. Kingfisher setzt auf im Vorgängerband etablierte Figuren und Strukturen, spinnt ein Garn, in dem der Horror unheimlich ist, aber nicht grob splattert, und rekreiert klassischen Grusel, ohne auf moderne, geschickt eingeflochtene Stilmittel zu verzichten.

Was die Nacht verschweigt

T. Kingfisher, Cross Cult

Was die Nacht verschweigt

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