Der Ring des Thoth
- Edition Dornbrunnen
- Erschienen: Mai 2023
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Zehn Ausgrabungen aus der Gruselgruft
Zehn phantastische Kurzgeschichten aus den Jahren 1885 bis 1929:
- Lars Dangel: Begleitwort, S. 7-9
- Georg von der Gabelentz: Der Haimensch (1929 [4]), S. 11-30: Seit ihm das bösartige Wesen seine Braut geraubt hat, lauert er auf den Tag der Rache.
- Isolde Kurz: Mittagsgespenst (1895 [2]), S. 31-51: Die Wanderung durch Italien führt ihn dorthin, wo sich übernatürlich die Sünden der Vergangenheit wiederholen.
- Willy Seidel: Der Schreck im Götafall (1924 [3]), S. 52-60: Der Mörder findet auf der Flucht ein Versteck, in dem es allerdings umgeht, weshalb ihn die Strafe doch trifft.
- Arthur Conan Doyle: Der Ring des Thoth (The Ring of Thoth; 1892 [3]), S. 61-78: Mehr als 1600 Jahre musste er unsterblich ausharren, bis er endlich den Weg zur längst verstorbenen Geliebten findet.
- Erik E. Elwood: Prinzessin Menemete (1929 [1]), S. 79-90: Seit sie lebte und starb, erwacht die altägyptische Prinzessin, um stets dieselben Fehler und Bosheiten zu wiederholen.
- Peter Baum: Im alten Schloss (1908 [1]), S. 91-106: Er war ein Soziopath, Mörder und Teufelsjünger, der seine Taten bereute und gleichzeitig genoss.
- Kurt Münzer: Die Katze (1929 [1]), S. 107-117: Die tragisch verstorbene Gattin sorgt dafür, dass der Witwer sie weder vergisst noch sich neu verliebt.
- Alexander Max Vallas: Die tausend Glocken des Li-Hung-Li (1920 [1]), S. 118-125: Ihm gelang eine ebenso erstaunliche wie widerwärtige Schöpfung, die ihrem Zorn auf schauerliche Weise Luft macht.
- Victor F. Witte: Der Wächter am schwarzen Kreuz (1929 [1]), S. 126-133: Der nächtliche Besuch einer uralten Kirche weckt eine Kreatur, die schon lange nach einem neuen Opfer giert.
- Karl Heinrich Ulrichs: Sulitelma (1885 [3]), S. 134-159: Ein Schiff aus Eis segelt über den Himmel. Als sich eine junge Frau in einen der ‚Matrosen‘ verliebt, stürzt sie sich, ihre Familie und ihren Liebhaber ins Unglück.
- Autoren, S. 160-169
- Bibliografische Anmerkungen, S. 170/71
Aus diesen Sammlungen stammen die abgedruckten Geschichten:
[1] „Hinter dem Quecksilber“ (2016)
[2] „Das sterbende Bild“ (2019)
[3] „Montezuma“ (2022)
[4] „Abseits der Geographie“ (2022)
Eine Lanze für den heimischen Grusel
Einst galt Deutschland als Hort eines Grusels, der vor allem in schaurig-verfallenen Burgruinen, düsteren Wäldern oder auf uralten Friedhöfen ein Unwesen trieb, das zumindest literarisch selbst „aufgeklärten“ Lesern, die (angeblich) an Spuk nicht (mehr) glaubten, angenehme Lektüreschauer bescherte. Dieser Schrecken wurde in anderen Ländern vielfach aufgegriffen: Autoren liefern, was zahlende Leser fordern. Als „gotischer Horror“ des 18. und frühen 19. Jahrhunderts ist er in die Literaturgeschichte eingegangen, bleibt aber heute (aufgrund seiner inhaltlichen Umständlichkeit nicht grundlos) meist ungelesen.
Weniger bekannt ist eine Fortexistenz und Entwicklung der deutschen Phantastik, die in den Jahrzehnten vor und nach 1900 keineswegs in der Vergangenheit verharrte. Horror ist immer ein Spiegel realer Probleme, die in der Gegenwart wurzeln. Durch den Tod unbewältigt, können sie ein (gefährliches) Nach- und Eigenleben und dabei sowohl ‚positive‘ als auch ‚negative‘ Gefühle in erschreckender Reinheit entwickeln. Kurt Münzer (1879-1944) erzählt sehr typisch eine ‚übernatürliche‘ Liebesgeschichte, die ein Fortleben jenseits der Trauer nicht gestattet; die ‚liebende‘ Gattin sorgt als Geist notfalls mit Gewalt dafür. Auch Karl Heinrich Ulrichs (1825-1895) sieht die Liebe nicht als Instrument der Erlösung, sondern schreibt ihr eine zerstörerische Macht zu, die den märchenhaften Tonfall Lügen straft (und an seine eigenen, unglücklichen Erfahrungen als homosexueller Mann in einer Gesellschaft erinnert, die ihn verfolgte und bestrafte).
Obwohl die in diesem Band versammelten Autoren ihre Garne gern in der Vergangenheit spielen lassen, knüpfen sie stets an die Gegenwart an: Die Zeit ist kein Ausweg, um den Fehlern oder Schrecken von Gestern zu entkommen. Georg von der Gabelentz (1868-1940) beschreibt das Schicksals eines Mannes, der in seiner Trauer erstarrt ist bzw. diese auf eine Rache projiziert, die womöglich - und hier wird der Autor quasi psychoanalytisch und sehr modern - auf der Wahnvorstellung eines reuigen Verbrechers beruht.
Arthur Conan Doyle (1859-1930) - der Schöpfer des Sherlock Holmes sorgt für die einzige übersetzte Geschichte dieses Bandes - und Erik E. Elwood (der gänzlich im historischen Dunkel verlorengegangen ist) gehen in die nach der Entdeckung des Grabes von Tutanchamun (1922) trivialkulturell allgegenwärtige Welt Altägyptens zurück, verrühren Pharaonen-Exotik mit Mumien-Grusel und entwerfen ihre Versionen einer daraus resultierenden Unsterblichkeit. Während Doyle sehr konventionell und sentimental erzählt, wirft Elwood einen sarkastischen Blick auf das ewige Leben: Menemete ist eine charakterschwache ‚Prinzessin‘, die ausschließlich ihre Fehler wiederholt. Elwood unterstreicht dies, indem er diese Leerläufe in stets gleiche Worte und Sätze kleidet.
Verfehlung zieht Spuk nach sich
Natürlich kann und will auch der deutsche Grusel nicht auf den Spuk als Strafe für Versagen und Verbrechen verzichten. Im Tod kehrt das Opfer zurück und treibt den Täter in den Wahnsinn. Herausgeber Lars Dangel stellt Storys vor, die solche Sühne nicht gar zu sehr in den Mittelpunkt stellen bzw. einfallsreich variieren; Alexander Max Vallas (1884-1943) und sein rachsüchtiger Riesenkrake sorgen für eine bizarre und trotz ihres erwartungsgemäß tragischen Endes eindrucksvolle Geschichte! Victor F. Witte (1893-?) scheint sich auf M. R. James (1863-1936), den britischen Meister der Geistergeschichte, zu stützen, wenn er einen Pechvogel dorthin lockt, wo das Grauen lauert: Unwissenheit schützt vor (übernatürlicher) Strafe nicht.
Isolde Kurz (1853-1944) gibt dem Schuldaspekt eine unerwartete Perspektive, indem sie den daraus resultierenden Spuk nicht auf die Stunden nach Mitternacht verbannt und ihn außerdem nicht an die für ihn verantwortlichen Personen, sondern an einen Ort bindet. Für Willy Seidel (1887-1934) ist die persönliche Schuld des Protagonisten nur eine Begründung, um ihn dorthin zu bringen, wo er mit einem Schicksal konfrontiert wird, das ihn (scheinbar/nur zufällig) für sein Verbrechen zur Verantwortung zieht. Peter Baum (1869-1916) verweigert seinen Lesern jede Moral, wenn er uns mit den Memoiren eines adligen Lebemanns konfrontiert, der zwar zahlreichen Sünden bekennt, dabei jedoch stets seine boshafte Reuelosigkeit durchscheinen lässt.
„Der Ring des Thoth“ ist als Sammlung Ausdruck einer Faszination: Herausgeber Lars Dangel bringt sie einer Phantastik entgegen, die aufgrund ihrer obskuren Erscheinungshistorie (s. u.) in Vergessenheit geraten ist. Er hat sich große Mühe gegeben, tief in staubigen Archiven nach Schätzen gegraben und sie im Selbstverlag herausgegeben. Die Auflagen waren winzig, weshalb man froh sein darf, dass der kleine Verlag Dornbrunnen die zutage geförderten Storys in nicht nur wohlfeilen, sondern auch schlicht, aber elegant layouteten Taschenbuchausgaben wiederkehren lässt sowie Dangel die Möglichkeit bietet, in weiteren Anthologien neue Funde zu präsentieren.
Die deutschen „Pulps“
Die angelsächsische Trivialliteratur diesseits und jenseits des Atlantiks blühte etwa zwischen 1926 und 1955 dank der unzähligen „Pulp“-Magazine auf, in denen Autoren zwar schlecht zahlende, aber bereitwillig ihre oft schnell heruntergeschriebenen, auf den Effekt getrimmten Erzählungen und Fortsetzungsromane entgegennehmende Herausgeber fanden. Die schillernden, knallbunten Cover sorgten für einen Erinnerungseffekt, weshalb diese auf billiges Papier gedruckten und für den ‚Verbrauch‘ gedachten Hefte in den Rang eines kulturellen Vermächtnisses erhoben wurden.
Dass die „Pulps“ eine lebendige Vorgeschichte besaßen, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreicht, war lange nur einschlägigen Spezialisten bekannt. Kostengünstiger Lesestoff fand schon früher ein Publikum, das den Analphabetismus allmählich abschüttelte. Neben schon vor 1926 weit verbreiteten Magazinen fanden sich unterhaltende Texte auch in Zeitungen, die oft eigene Beilagen produzierten. „Kostengünstig“ bedeutete jedoch ein Produktionsniveau, das nie auf Haltbarkeit und Archivierungstauglichkeit zielte. Kaufen - lesen - wegwerfen: So sah der kurze Existenzzyklus solcher (Mach-) Werke aus. Je weiter man zeitlich zurückschaut, desto rarer werden die ‚Überlebenden‘.
Hier schließt sich ein Kreis, denn obwohl sich in Deutschland nie eine „Pulp“-Kultur entwickeln konnte, gab es auch hier jene täglich, wöchentlich oder monatlich erscheinenden Blätter und Hefte, die ihren Lesern spannende Kurzgeschichten boten. Die Fülle dieser Publikationen sorgt heute für Erstaunen; in einer von Fernsehen und Internet freien Ära erschienen manche Tageszeitungen dreimal täglich - mit ‚frischen‘ Inhalten! Die Reaktionen gierten nach Material und konnten gut zahlen. Für fähige, aber auch in der „guten, alten Zeit“ oft darbende Schriftsteller/innen bot sich hier ein Markt. Auch von der Kritik in den Stand von Literaturgöttern erhobene Autoren waren sich keineswegs zu schade für ‚simple‘ Unterhaltung, die deshalb - der hier vorgestellte Band beweist es - keineswegs simpel in Stil und Ausdruck sein musste!
Fazit:
Neun deutsche Kurzgeschichten (plus eine aus dem Englischen übersetzte Story) aus den Jahrzehnten vor und nach 1900 künden vom Reichtum einer Phantastik, die trotz ihrer Vielgestaltigkeit weitgehend in Vergessenheit geriet. Ungeachtet des ‚altmodischen‘ Sprachduktus’ sind diese Erzählungen einfallsstark, bedienen keineswegs nur Horror-Klischees und wirken manchmal erstaunlich ‚frisch‘.
Lars Dangel (Herausgeber), Edition Dornbrunnen
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