Die Stimme der Kraken

  • Tropen
  • Erschienen: April 2024
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Die Stimme der Kraken
Die Stimme der Kraken
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Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJun 2024

Harte Kontaktversuche mit zornigen Weichtieren

In einer nicht allzu fernen Zukunft hat sich die Menschheit technologisch kontinuierlich weiterentwickelt, ist dabei aber sozial auf den Hund gekommen und hat den Planeten Erde ökologisch ruiniert. Politisch hat die Welt sich neu geordnet bzw. ist in eine Vielzahl miteinander konkurrierender Interessenverbände zerfallen, die sich nicht nur digital bekriegen.

Das südostasiatische Archipel Con Dao wurde von der finanzstarken DIANIMA-Gruppe ‚erworben‘ und evakuiert. Auf diese Weise sollen (vorgeblich) die Tiere des Meeres geschützt werden; eine Herausforderung, die den Einsatz von Gewalt einschließt, denn bewaffnete ‚Fischerboote‘ wollen auch hier ‚ernten‘; sie werden versenkt.

Con Dao wird nicht unbedingt aus Tierliebe oder Menschenfreundlichkeit geschützt. Unter dem Meeresspiegel scheint sich eine neue Intelligenz herausgebildet zu haben: Die Kraken der Insel kommunizieren miteinander und gehen gezielt gegen Menschen vor, die in ihr Territorium eindringen. Die Kommunikationswissenschaftlerin Ha Nguyen soll gemeinsam mit dem KI-Androiden Evrim herausfinden, was die Weichtiere planen.

Wie sich herausstellt, wollen diese um jeden Preis ihre kleine Kolonie schützen. Stets wurden Kraken verfolgt, den Menschen kennen sie nur als Feind, mit dem sie deshalb nichts zu tun haben wollen. Darauf gehen die faszinierten Forscher natürlich nicht ein. Es beginnt eine einseitige, gefährliche, durch Missverständnisse geprägte Kontaktaufnahme ...

Die Außerirdischen sind längst unter uns

Gehen wir an dieser Stelle einmal davon aus, dass plötzlich intelligente Außerirdische unseren Planeten (hoffentlich nur) besuchen. Wie wir Menschen stünden sie vor einem grundsätzlichen Problem: Wir können wir uns verständlich machen? Ohne Kommunikation gibt es kein Vertrauen, was zum Problem werden könnte, wären besagte Außerirdische zwar lammfromm, sähen aber beispielsweise wie riesige Spinnen aus. „Sprache“ ist ein definitionsabhängiges Phänomen. Wir Menschen tauschen uns über Töne, Gesten und Körpersprache aus. Differenzen auf diesem Niveau ließen sich relativ einfach überwinden. Anders wäre es, würde die Kommunikation unserer potenziellen Besucher auf gänzlich andere Weise funktionieren.

Der irdische Krake ist dafür ein ausgezeichnetes Beispiel: Er ‚spricht‘ über Farben und Muster, die er auf seiner Haut aufscheinen lässt. In dieser Hinsicht kann er problemlos mit einem High-Tech-Monitor konkurrieren, seine Farbe/n blitzschnell und körperpartieweise wechseln oder ‚Schriftbänder‘ ablaufen lassen. Manche Arten sind sogar in der Lage, dies mit biologischen Lichteffekten zu unterstreichen. Hinzu kommt die Fähigkeit des Gestaltwechsels, denn Kraken sind Weichtiere ohne Knochen.

Intelligent sind sie nachweislich auch, was sie zum potenziellen Konkurrenten des Menschen machen könnte. Nur ihre geringe Lebenserwartung und ihre weiche Schutzlosigkeit verhindern laut Autor Ray Nayler eine Zivilisation. Für sein Romandebüt hat er die irdische Gegenwart ein wenig in die Zukunft erweitert und den gesunden Menschenverstand dabei soweit ausgeklammert, wie es der Realität entspricht. Von „Globalität“ ist keine Rede mehr, überall mühen sich die Überreste einstiger Großmächte um ein Überleben, das auf der endgültigen Zerstörung des Planeten sowie blankem Raub basiert: Wer sich nicht wehren kann, wird überrannt, versklavt, umgebracht.

Sie trauen uns nicht - zu Recht

Anders als die Außerirdischen kennen die Kraken uns Menschen nur zu gut. Wir mögen sie - buchstäblich und nicht nur frittiert. Außerdem fangen wir ihnen die Fische, Krebse u. a. Nahrungstiere weg, von denen sie leben, und verschmutzen ihre Lebensräume: kein echtes Fundament für eine Beziehung! Ihre Intelligenz verbergen die Kraken von Con Dao, so lange es möglich ist. Sie gehen sogar einen Schritt weiter und gehen gewaltsam gegen jene vor, die ihr Geheimnis entdecken. Der Krake hat gelernt und begriffen. Er verhält sich wie der Mensch, schottet sich ab und präsentiert seine Waffen. Folgerichtig lautet seine Botschaft: Lasst uns in Ruhe, betretet unseren Teil des Meeres nicht!

Dass es Forscher sind, die nicht nach Calamares, sondern nach Wissen hungern, ist den klug gewordenen Kraken fremd. Isolation bedeutet auch Unwissen. Die Kraken sind misstrauisch, sie haben nicht nur den Gebrauch von Werkzeugen, sondern auch die Herstellung von Waffen gelernt! Die Kontaktaufnahme wird dadurch zu einem heiklen Unterfangen. Schon der Versuch, eine gemeinsame ‚Sprache‘ zu entwickeln, ist eine Herausforderung. Missverständnisse sind vorprogrammiert.

Hinzu kommt die irdische Realität. Con Dao ist kein Ort, der zur ruhigen, systematischen Forschung taugt, sondern eine Festung, deren Insassen ihr Territorium mit Waffen gegen jene verteidigen müssen, die eiweißhungrig nach den letzten Meerestieren gieren. Gigantische Fabrikschiffe ernten die Ozeane ab und zerstören dabei endgültig die Nahrungsketten. Nach uns buchstäblich die Sintflut, so lautet das Motto derer, die sich auf diese Weise bereichern, so lange es möglich ist.

Gezielt missbrauchte Forschung

Autor Nayler spiegelt die Ereignisse auf Con Dao in diversen Nebenhandlungen, die an anderen Orten dieser zukünftigen Welt spielen. Lange scheint das Archipel ein seltener Ort des Friedens zu sein, doch Ha und Evrim müssen feststellen, dass sie nicht in einem Forscherparadies gelandet sind: DIANIMA interessiert sich womöglich nicht für das Wohl der Kraken, sondern vor allem für die Mechanismen ihrer Intelligenz und ihrer Kommunikation. Um diese Geheimnisse zu lüften, ist man buchstäblich bereit, in die Hirne der Kraken vorzudringen. Krise und Digitalisierung haben den Wert des Lebens objektiviert und in eine Ware verwandelt.

Ha und Evrim sind denkbar untauglich als Rebellen gegen das System; ein seltsames Paar, womit sie dem Klischee ‚typischer‘ (trivialliterarischer) Helden entsprechen. Die beziehungsgestörte Frau und der Android, dem die (künstliche) ‚Menschlichkeit‘ abgesprochen wird, sind Außenseiter. Sie wollen die Kraken vor ihrem Schicksal bewahren und stellen sich damit gegen ein ausgeklügeltes System, das sie rund um die Uhr bewacht. Es scheint auf ein genretypisches bzw. -bekanntes Finale hinauszulaufen. Doch Nayler findet eine alternative Auflösung, die dem von ihm entfesselten Chaos gerecht wird, aber trotzdem eine versöhnliche Note aufweist.

„Die Stimme der Kraken“ ist ein moderner Science-Fiction-Roman, wobei sich der Zukunftsaspekt klassisch am schon Realen bzw. Möglichen orientiert, was der Autor in einem ausführlichen Nachwort ausführt. Im Vordergrund steht der Plot, dem sich die Figurenzeichnung unterordnet, ohne nach Lesern zu fischen, die ihre Phantastik ‚romantisch‘ schätzen. SF-klassisch gibt es diverse „science“-lastige Sequenzen, die rein auf Unterhaltung gepolte Leser auf eine harte Probe stellen, aber Faszinierendes zum Thema Kommunikation bieten. Ray Nayler, geboren 1976 im kanadischen Quebec, aufgewachsen in Kalifornien, greift auf eigene Kenntnisse und Erfahrungen zurück. Viele Jahre war er für den „United States Foreign Service“ und das Friedenscorps vorzugsweise im südostasiatischen Raum als Beauftragter für Umwelt, Wissenschaft, Technologie und Gesundheit tätig.  Heute lehrt Nayler an der „Elliott School of International Affairs“ der George Washington University. Seit Mitte der 1990er Jahre schreibt er Kurzgeschichten. „Die Stimme der Kraken“ ist sein erster Roman und wurde 2023 mit dem „Locus Award“ - einem der hochrangigen US-Preise für Phantastik-Literatur - in der Kategorie Erstlingsroman ausgezeichnet.

Fazit:

In der dystopisch düsteren Zukunft einer technologisch fortgeschrittenen, aber ökologisch, politisch und sozial verwüsteten Erde spielt dieser Wissenschaftsthriller mit starken SF-Elementen. Das Gewicht liegt ungeachtet durchaus vorhandener Action-Sequenzen auf den Implikationen einer Kontaktaufnahme mit intelligent gewordenen Kraken und den daraus resultierenden Konsequenzen: Ein klassischer SF-Plot wird einfallsreich variiert.

Die Stimme der Kraken

Ray Nayler, Tropen

Die Stimme der Kraken

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