The Hollow Places

  • Eichborn
  • Erschienen: November 2024
  • 1
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
85°1001

Phantastik-Couch Rezension vonFeb 2025

Schlupfloch zwischen den Welten

Kara hat sich gerade von ihrem Gatten getrennt, auch beruflich läuft es schlecht. Deshalb ist sie froh, als ihr Onkel Earl Unterschlupf gewährt. Er liebt seine Nichte und könnte Hilfe brauchen, da ihn die Gicht plagt. Kara schlägt gern ein, zumal Earl ein Kuriositäten-‚Museum‘ leitet, wo er ein buntes Durcheinander seltsamer Objekte und Präparate ausstellt. Hier hat Kara in der Kindheit viel Zeit verbracht und freut sich auf die Rückkehr. Bald hat sie sich wieder eingelebt, führt ein ruhiges Leben und trifft sich höchstens mit dem Barista Simon, den sie schon ewig kennt.

Als der Onkel ins Krankenhaus muss, übernimmt Kara das Museum. Eines Tages entdeckt sie ein Loch in einer Wand, das wohl ein unachtsamer Besucher verursacht hat. Simon soll ihr helfen, den Schaden zu reparieren. Dabei stellt sich heraus, dass dieses ‚Loch‘ sich in einen Flur öffnet, der eine weitaus größere Fläche als das Museumsgebäude einnimmt.

Neugierig dringen Kara und Simon in den ‚Flur‘ vor. Immer weiter führt sie ihr Weg, und bald steht fest, dass sie sich nicht mehr innerhalb des Hauses bewegen. Dies bestätigt sich, als sie durch eine Tür ins Freie treten und unter einem fremden Himmel auf einer Insel inmitten einer endlosen Flusslandschaft stehen. Der Schock ist groß, die Neugier größer: Auf jeder der Inseln ist eine Art Bunker sichtbar. Manche Tür lässt sich öffnen, aber im Inneren gibt es nie ein Loch, das in eine andere Welt führt. Außerhalb der Bunker sind Kara und Simon trotzdem nicht allein. Doch sind es wirklich Menschen, die hier leben? Zudem gibt es Kreaturen, auf die das keineswegs zutrifft und deren Aufmerksamkeit Kara und Simon unbedingt vermeiden sollten ...

Das Abenteuer gleich nebenan

Was wäre, wenn …? Wie so oft wirkt diese Prämisse besonders vielversprechend, weil sie als Auslöser der daraus folgenden Geschichte simpel ist: Alles startet mit einem Loch in der Wand. Dass sich hinter dieser kleinen, unscheinbaren Öffnung eine neue, spannende, unheimliche Welt öffnet, ist keine Überraschung, denn welchen Sinn hätte sonst besagtes Loch? Schon oft starteten Romane und natürlich Filme auf diese Weise in aufregende Abenteuer. Einen besonders prominenten Vertreter nennt Autorin T. Kingfisher (die eigentlich Ursula Vernon heißt und das genannte Pseudonym für Werke verwendet, die sich an ‚erwachsene‘ Leser richten) selbst: Zwischen 1939 und 1954 öffnete der englische Schriftsteller Clive Staples Lewis (1898-1963) sieben Mal den Weg nach Narnia, ein von Legenden, Wunder und Schrecken geprägtes Paralleluniversum. Er schuf einen modernen Mythos, der es mit der „Ring“-Saga seines Freundes J. R. R. Tolkien aufnehmen kann.

Das Wort „Abenteuer“ sei hier hervorgehoben, denn Kingfisher legt Wert auf die Diskrepanz zwischen dem öden Alltag ihrer Heldin und der daraus entstehenden Versuchung, die sie in das Reich hinter dem Loch in der Wand lockt. Karas Leben war bisher wenig ereignisreich und wurde höchstens durch Unerfreulichkeiten in Bewegung gebracht. Das 30. Lebensjahr liegt hinter ihr, und sie tritt nicht nur auf der Stelle, sondern muss gerade einen Rückschlag verkraften. Nach dem traurigen, weil völlig unspektakulären Ende ihrer Ehe rettet nur Onkel Earl Kara vor der Demütigung, wieder bei den kritischen Eltern einziehen zu müssen.

Dass die ‚Arbeit‘ in Earls Kuriositätenkabinett wiederum eine Flucht ist, wird Kara nur oberflächlich bewusst. Sie ist froh, zu einem ereignisarmen Alltag zurückkehren zu können, der ihr abermals nicht gegönnt wird. Dieses Mal sorgt das Übernatürliche für Abwechslung. Es ist deutlich weniger freundlich als Karas Onkel oder der (eigentlich nur scheinbar exzentrische) Nachbar Simon, der ihr mehr oder weniger bereitwillig in die neu entdeckte Welt folgt.

Faszination des Furchtbaren

Hierzulande werden Kingfisher-Werke erst seit 2024 verlegt; dies allerdings recht erfolgreich. Vor allem ihre „Sworn-Soldiers“ Serie um die ehemalige Soldatin Alex Easton, die durch ein Europa des ausgehenden 19. Jahrhunderts (und im dritten Band in die USA) reist, das eine Geschichte erlebt hat, die anders verlaufen ist als in der Wirklichkeit. Außerdem sind Spuk und ähnliche Heimsuchungen aus dem Jenseits möglich. Kingfisher nutzt schon existierende Werke bekannter Vorgänger; so knüpft „What Moves the Dead“ (2022; dt. „Was die Toten bewegt“) an Edgar Allan Poes klassische Kurzgeschichte „The Fall of the House of Usher“ (1839, dt. „Der Untergang des Hauses Usher“) an.

Wie wir nun erfahren, ist ihr diese Idee schon früher gekommen. „The Hollow Places“ erschien 2020 und dockt ebenfalls an eine literarisch bedeutende Erzählung der Phantastik an, wie Kingfisher in ihrem Nachwort offenbart: Der Brite Algernon Blackwood (1869-1951) veröffentlichte die Novelle „The Willows“ (dt. „Die Weiden“) 1907. Hier geht es nicht um unheimliche Besucher aus fremden Dimensionen. Blackwoods Weiden wurzeln ausschließlich auf dieser Erde. Der Autor nutzt sie als Symbol einer Natur, die er nicht nur für lebendig, sondern auch für intelligent oder wenigstens durchgeistigt hielt. Die Weiden zeigen den schockierten Beobachtern eine für sie buchstäblich natürliche Nachtaktivität. Einst war die Natur so präsent, dass der Mensch ihre Emanationen kannte, mit ihnen umzugehen wusste und sie notfalls fürchtete. Dieses Wissen ist verschwunden, was die neuerliche Konfrontation gefährlich werden lässt. Hinzu kommt die Beschwörung einer Stimmung, in der sich Faszination und Schrecken mischen; hier entfaltet sich Blackwoods wahre Meisterschaft.

Entsprechenden Tiefgang erwarte (oder befürchte) man von Kingfishers Garn nicht! Sie ist eine Vielschreiberin, ihr Romanausstoß beträchtlich, was nicht möglich wäre, würde sie sich dem einzelnen Werk so intensiv widmen wie Blackwood. Nicht grundlos hat sie sich von diesem ‚inspirieren‘ lassen! Obwohl Kingfisher im schon erwähnten Nachwort eine „Hommage“ geltend macht und man ihr dies glauben möchte, ersparte ihr Blackwoods Vorlage viel Arbeit. Horrorfans kennen und schätzen den Kurzroman, die Story selbst verkraftet Kingfishers Aneignung und funktioniert weiterhin prächtig.

Multiversale Reise mit angezogener Bremse

Originell ist die Story im Grunde nicht, aber sie lebt, weil Kingfisher ihr Handwerk versteht. „The Hollow Places“ ist gut strukturiert, der Stil ist locker, aber präzise. Die Figuren sind zwar recht flach, aber sie konzentrieren sich auf das zentrale Geschehen. Das ist heutzutage keine Selbstverständlichkeit. Gerade Karas Schicksal als treulos verlassene Gattin ließe das Auftauchen eines zukünftigen Mr. Right im Rahmen der sich anbahnenden Ereignisse erwarten bzw. befürchten, und der schwule Simon böte sich als Fixpunkt für allerlei Wokismen an. Doch Kingfisher verschont uns. Sie erzählt ihre Geschichte - und die dreht sich um eine Parallelwelt, in der Monster umgehen!

Die nehmen unterschiedliche Gestalt an. Blackwoods Weidenblatt-Phantome sind natürlich anwesend, aber sie spielen nur die zweite Geige und bahnen Kreaturen den Weg, die eher an H. P. Lovecraft erinnern und nur manchmal oder über ihre gruseligen Taten sichtbar werden. Die Zerlegung bzw. ‚Umformung‘ menschlicher Körper ist ihre Spezialität, und über die Ergebnisse setzt uns Kingfisher gern detailliert in Kenntnis. (Auch könnte Alex Garland mit seinem Roman „Annihilation“ - dt. „Auslöschung“ - und dem gleichnamigen Film von 2018 ‚anregend‘ gewirkt haben.)

Später kommt die fremde Welt in und über Karas Realität und spukt nicht nur durch Onkel Earls Museum, sondern steigert sich in der Intensität des Auftretens und entfesselt schließlich ein Spektakel, das an die Kino-Trilogie „Nachts im Museum“ erinnert, aber eine Nummer kleiner ausfällt; statt eines Saurierskeletts tobt hier ein ausgestopfter Riesenotter durch die Räume. Wie es sich gehört, steht es im Finale auf Spitz und Knopf, und noch einmal schäumt das Übernatürliche hoch auf, bevor es nicht besiegt, aber gebändigt werden kann - vielleicht, denn Kingfisher sorgt als Profi für ein, zwei Hintertürchen, durch die man notfalls in das Reich der Weiden, Otter und Ungeheuer zurückkehren könnte.

Fazit:

Solides, flüssig geschriebenes (und übersetztes) Mystery-Abenteuer mit hohem Horror-Anteil. Die Figuren widmen sich der Handlung, statt sich in Liebeständeleien zu verheddern, der Gruselfaktor ist zufriedenstellend hoch, und obwohl einige Fragen (zunächst?) offen bleiben, wird das Geschehen zufriedenstellend aufgelöst: Es gibt also moderne Mystery nicht nur für „Young Adults“ sowie jenseits der „Romantasy“-Sümpfe!

The Hollow Places

T. Kingfisher, Eichborn

The Hollow Places

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »The Hollow Places«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Sci-Fi & Mystery
(MUSIC.FOR.BOOKS)

Du hast das Buch. Wir haben den Soundtrack. Jetzt kannst Du beim Lesen noch mehr eintauchen in die Geschichte. Thematisch abgestimmte Kompositionen bieten Dir die passende Klangkulisse für noch mehr Atmosphäre auf jeder Seite.

Sci-Fi & Mystery