Jenseits der Dächer
- Independently published
- Erschienen: Mai 2024
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Hoch hinaus!
Was ist Heimat?
Velis Van ist eine magische Metropole, in der die Vel sogenannte Arkantechnik nutzen. Nicht nur nutzen, sondern regelrecht abhängig von ihr sind. Magie und Wissenschaft arbeiten dort Hand in Hand und sorgen dafür, dass das Leben für das kränkliche Volk der Vel nicht nur einfacher, sondern auch lebenswerter wird. Außerdem wird die Stadt, welche durch große Mauern besser von der Außenwelt abgeriegelt ist als jede Festung, durch die Arkantechnik stetig mit Energie versorgt. Lebensnotwendiger Energie.
Da die Vel durch ihre Degeneration, auch als „Schwäche“ bezeichnet, sehr eingeschränkt sind, was sich oft durch Herz- und Lungenerkrankungen äußert, sind sie für körperliche Anstrengungen jeglicher Art auf Hilfe angewiesen. So greift die angesehene Vel-Familie Vey’Valar etwa auf die flinken Beine des Menschen Jaris zurück, um wichtige Botengänge zu erledigen. Er ist ein Läufer, bewegt sich flink und mit absoluter Präzision über die Dächer von Velis Van, um effizient zum jeweiligen Zielort zu gelangen. Für seine akrobatischen Einlagen nutzt er die Magie im Zeichen des Windes. Straßen meidet er so gut es geht. Möglichst weit weg von den Vel, auf sicherem Terrain und mit schier grenzenlosem Blick in die Ferne, fühlt er sich frei… denn Jaris ist ein Sklave. In jungen Jahren seiner Heimat Tul’Adir entrissen, ebenso den Armen seiner Mutter. Seitdem ist Velis Van sein Zuhause, sein Revier. Er kennt jeden Winkel, jeden Dachziegel, doch seine Heimat wird diese Stadt nie werden. Zusammen mit seinem besten Freund Callon, ebenfalls ein Läufer, mit dem Jaris sich spielerische Wettläufe über die Dächer von Velis Van liefert, träumt er davon, irgendwann wieder in sein früheres Leben zurückzukehren.
Schlecht geht es Jaris nicht, denn seine Herren, die Familie Vey’Valar, haben ihn trotz der klar aufgestellten Hierarchie wohlwollend und herzlich in ihren Kreis aufgenommen. Er wohnt bei ihnen, teilt sich den Tisch mit ihnen und hat besonders zum Sohn Faradian ein mehr als freundschaftliches Verhältnis aufgebaut. Liebevoll bezeichnet Jaris ihn als „kleinen Bruder“. Faradian hat die „Schwäche“ besonders schwer zugesetzt, weshalb Jaris stets in Sorge um den jungen Vel ist. Trotzdem schmiedet er Pläne, die Mauern seines Gefängnisses zu überwinden…
Diese werden konkret, als Callon und Arn, ein weiteres Mitglied aus Jaris‘ überschaubarem Freundeskreis, durch eine Verkettung unglücklicher Umstände in eine Ausnahmesituation geraten und plötzlich untertauchen müssen. Mit Unterstützung der Technikerin Mory, die Jaris mehr als nur eine Freundin ist, fassen sie den Entschluss, aus Velis Van zu flüchten. Kein einfaches Unterfangen, aber nicht unmöglich. Doch hinter den Mauern, jenseits der Dächer, liegt nicht die Freiheit, die Jaris sich so viele Jahre erhofft hatte…
Fallen wir gleich mit der Tür ins Haus:
DAS ist Fantasy, wie ich sie lesen möchte! Bereits nach wenigen Kapiteln war mir klar, dass dieses Erstlingswerk(!) nicht auf der fixen Idee eines jungen Autors beruht, sondern jede Menge Herzblut und eine genaue Idee davon, wie man eine komplett neue Welt detailliert und glaubhaft einer aufgeschlossenen Leserschaft präsentiert, federführend bei der Erschaffung gewesen sein müssen. Die Grundpfeiler legte der Siegener Autor Maik Kassel bereits im zarten Alter von zehn Jahren. So entstand durch die frühe Liebe zum Geschichtenerzählen ein erster Entwurf für die phantastische Welt Maisteff, in der auch sein erster veröffentlichter Roman „Jenseits der Dächer“ spielt. Nicht mal eben aus dem Ärmel geschüttelt, sondern akribisch geplant und zudem noch hervorragend ausgearbeitet. Spielerisch erklärt uns Maik Kassel Stück für Stück die von ihm erdachte Welt, ohne uns mit wissenschaftlich-magischen Komponenten bzw. Erklärungen zu überfordern. Das ganze System ist schlüssig, hat Hand und Fuß. So sehr, dass wir uns schnell heimisch in der Metropole fühlen, der der Hauptprotagonist möglichst schnell den Rücken kehren möchte.
Maik Kassel leidet seit seinem fünfzehnten Lebensjahr an der seltenen Muskelkrankheit „Hypokaliämische Periodische Paralyse“, bei der schubweise schmerzhafte Lähmungen auftreten. Der heute 29-jährige Siegener stellte wegen der Krankheit seinen musikalischen Weg und die Liebe zu Live-Rollenspielen hinten an, fand aber wieder zum Schreiben zurück. Kennt man diese Umstände, wird deutlich, wie viel von ihm selbst in die Geschichte gewandert ist. Die von der „Schwäche“ gezeichneten Vel, der freiheitsliebende Jaris, der sich nur allzu leichtfüßig über die Dächer der Stadt bewegt, der hohe Stellenwert von Freundschaft und Zusammenhalt in der Familie. All dies wird glaubwürdig transportiert. So schreibfreudig, wie der Autor zu Werke ging, so gern ließ ich mich von dieser erfrischend neuen Welt in den Bann ziehen. Fest steht, dass es in der Welt von Maisteff weitergehen wird, was ich als großes Glück für den Fantasy-Markt empfinde.
Was wir (nicht) brauchen
Ein mutiger Schritt, eine Geschichte, an die man voll und ganz glaubt, endlich mit der Öffentlichkeit zu teilen. Maik Kassel wagte diesen Schritt mit Unterstützung von Familie und Freunden. Beispielsweise bei der tollen Cover-Gestaltung, die eine magische Steampunk-Note anschlägt. Viel mehr braucht es nicht, denn schließlich soll ein Cover doch nur den Inhalt leicht anteasern… oder? ODER?
Nun, schauen wir auf so manch großes Verlagshaus, scheint der Fokus sich in sehr komische, oft nicht nachvollziehbare Bahnen verzogen zu haben. Wir haben hier mit „Jenseits der Dächer“ einen grandiosen Auftaktband, in dessen mehr als 500 Seiten wirklich keine als überflüssig oder Füllwerk zu bezeichnen wäre. Schaue ich mich nun mal in Buchhandlungen um, fällt mir als Erstes eine erschlagende Menge an Neuveröffentlichungen ins mittlerweile müde Auge, die vor alle durch ihre markanten Aufmachungen an die Kundinnen und Kunden gebracht werden sollen. Ich wage mal die steile These, dass man gerade durch Social Media einen Markt gefunden hat, seichte Geschichten aus der „Naja“-Schublade durch Bling-Bling und Buchschnitte in Farben, von denen ich nicht mal wusste, dass sie existieren, ans Publikum zu bringen, während aufstrebende Fantasy-Schreiberinnen und -Schreiber ziemlich allein auf weiter Flur stehen. Frische Fantasy mit schönem Worldbuilding und Substanz scheint nur noch schwer vermittelbar, wenn es ausreicht, generische Schmacht-Schmonzetten mit Daily-Soap-Charakter durch x-beliebige Influencerinnen zu vermarkten, die in 1:30 kreischend schwärmen „Guckt mal, wie hübsch der Scheiß funkelt!“.Natürlich finden sich auch darunter positive Ausnahmen, doch diejenigen, die nicht schlicht aus dem Klappentext zitieren, sind in der Masse rar gesät.
Gebt mir Papier. Schlichtes Papier. Bedruckt es mit handfestem Genre-Stoff, der es endlich mal wieder wert ist, erzählt zu werden. Packt das Ganze zwischen zwei Buchdeckel und traut Fantasy-Liebhaberinnen und -Liebhabern zu, dass sie gute Geschichten erkennen, ganz egal, wie ein- oder ausladend die Gestaltung eines Buches ist. Legt endlich mal wieder Wert auf Inhalte und gebt uns die Chance, neue Welten mit Hilfe unserer Fantasie selbst zum Leben zu erwecken. Die Tolkiens, Rowlings, Pratchetts und Hohlbeins von Morgen sind irgendwo da draußen… man muss ihnen nur die Chance geben, entdeckt zu werden, und sie nicht vor die große Hürde stellen, ihre Visionen oft nicht mit der breiten Masse teilen zu können. Ich – für meinen bescheidenen Teil – habe eine große Entdeckung gemacht, die mir ohne wachsames Auge in alle Richtungen und den Mut eines jungen Autors, den Schritt der Selbstveröffentlichung zu wagen, fast durch die Lappen gegangen wäre… und sie heißt „Jenseits der Dächer“.
Fazit:
Eine ganz wunderbar erklärte, erfrischend neue Welt, sympathische Figuren, mit denen ich nach kurzer Zeit mitfühlen konnte, und eine fesselnde Geschichte, die erstaunlich vielschichtig und spannend erzählt wird. Maik Kassel hat mit seinem Maisteff-Universum eine Tür geöffnet, die so schnell hoffentlich nicht mehr geschlossen wird.
Maik Kassel, Independently published
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