Horror vom Feinsten
- Heyne
- Erschienen: Januar 1993
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13 x Edel-Schrecken, der dich trotzdem packt
13 (einst) moderne Horrorgeschichten:
- Douglas E. Winter: Einführung (Introduction), S. 7-18
- Stephen King: Der Nachtflieger(The Night Flier), S. 21-63: Offenbar reist ein Serienmörder mit dem Flugzeug durch das Land. Ein Reporter kommt ihm auf die Spur, stellt ihn - und erkennt, dass auch uraltes Grauen mit der Zeit gehen kann.
- Paul Hazel: Mittagessen mit Dame(Having a Woman at Lunch), S. 64-73: Als eine junge Frau frisches Blut in eine Büro-Gruppe verknöcherter ‚Kollegen‘ bringen soll, sorgen diese dafür, dass die unliebsame Konkurrentin buchstäblich verschwindet.
- Dennis Etchison: Der Todeskuss(The Blood Kiss), S. 74-99: Chris wird im Büro gemobbt und will sich rächen, trifft aber irrtümlich nicht den ihr bis dato unbekannten Helfershelfer, sondern einen Mann mit eigenen, entsetzlich anders gelagerten Motiven.
- Clive Barker: Heimkehr in Trauer(Coming to Grief), S. 103-132: Nach Jahren in ihr Heimatdorf zurückgekehrt, will sich Miriam endlich ihrem Kindheitsschrecken, dem „Spukpfad“, stellen, der seinen Namen indes nicht zu Unrecht trägt.
- Thomas Tessier: Essen(Food), S. 133-150: Mr. Whitman liebt die 300 Kilo schwere Miss Rowe, doch während er damit ringt sich zu erklären, übersieht er die Anzeichen einer folgenschweren Verwandlung.
- M. John Harrison: Der große Gott Pan(The Great God Pan), S. 151-181: Vor zwanzig Jahren beschworen drei Freunde allzu neugierig etwas herauf, das ihnen seitdem im Nacken sitzt.
- David Morrell: Die Farbe des Wahnsinns(Orange Is for Anguish, Blue for Insanity), S. 185-231: Er war ein Genie und endete selbstmörderisch im Wahnsinn; ein Student und sein bester Freund entschlüsseln zu ihrem Unglück das Geheimnis, das den toten Maler inspirierte und nun auch sie erwartet.
- Peter Straub: Der Wacholderbaum(The Juniper Tree), S. 232-269: Der siebenjährige Junge lernt das wahre, von Menschen verursachte Böse kennen und muss sich ihm entweder stellen oder ergeben.
- Charles L. Grant: Märchenstunde mit den Toten(Spinning Tales with the Dead), S. 273-289: Die Geister seiner Familie und des besten Freundes erscheinen nicht, um ihn zu trösten, aber er ist süchtig nach dem Trugbild brutal geendeten Glücks.
- Thomas Ligotti: Alices letztes Abenteuer(Alice's Last Adventure), S. 290-314: Die einsame Kinderbuch-Autorin Alice erfährt am Ende ihres Lebens, dass tatsächlich ein Reich hinter den Spiegeln existiert.
- Ramsey Campbell: Ihr werdet mich noch kennenlernen!(Next Time You'll Know Me), S. 315-326: Alle erfolgreichen Bestseller der letzten Jahre gehen eigentlich auf Oscars Ideen zurück, doch miteinander verschworene Autoren und Verlage haben sie ihm gestohlen; nun wird Oscar sie zur Rechenschaft ziehen!
- Whitley Strieber: Der Pool(The Pool), S. 329-340: Sein Sohn kann jene meist verschlossene Tür im Hirn öffnen, die dem Menschen den Weg in ein unirdisches, fantastisches Reich öffnet; den Preis müssen seine Eltern zahlen.
- Jack Cady: Wegen des Dunkels(By Reason of Darkness), S. 341-417: Im Vietnamkrieg haben die drei Freunde zahllose Gräuel begangen. Vor allem North hat es auf die Spitze getrieben und wird nach seiner Heimkehr in die USA so hart von den Geistern seiner Opfer bedrängt, dass in ihm ein infamer Plan zur Rettung seiner Seele aufkeimt.
Plädoyer für einen ‚guten‘ neuen Horror
1988 verwirklichte Douglas E. Winter (*1950), der sich nicht nur in sämtlichen Bereichen des Horrors auskennt, sondern dort als Autor selbst Maßstäbe gesetzt hat, seine Vision einer Bestandsaufnahme des geliebten Genres. In einem ausführlichen Vorwort erklärt er seine Motive, was einhergeht mit einem persönlichen Rückblick auf die Geschichte des fiktiven Schreckens. Dieser ist nach Winter subjektiv und unterliegt deshalb ‚modischen‘ Strömungen. Als „Horror vom Feinsten“ - an dem dämlichen deutschen Titel ist Winter unschuldig - erstmalig erschien, galt gerade der „Splatterpunk“ als Zukunft des Genres: Schrecken sollte entfacht werden, indem Mutanten, Irre oder sonstwie körperlich wie geistig degenerierte Unholde ihre Opfer gleichzeitig zu Tode folterten und fickten; dies wurde liebevoll in drastischen Details beschrieben.
Für Winter stellt der Splatterpunk eine Sackgasse dar. Er definiert „Horror“ nicht als kurzfristigen Schock, sondern als Gefühl mit schier endloser Nachwirkung: eine recht konservative Sicht, doch die Geschichte des Genres bestätigte ihn. Der von Winter gelobte Horror hält sich weiterhin dort, wo Romane und Geschichten auflagenstark gelesen werden, während der Metzel-Grusel in einer Nische gelandet ist.
Für sein Projekt konnte Winter die Crème de la Crème des zeitgenössischen Horrors gewinnen, zu denen sich Autoren gesellten, denen der Herausgeber großes Potenzial zubilligte. 13 kurze bis novellenlange Erzählungen entstanden speziell für „Prime Evil“ (wie der wesentlich treffendere Titel der Originalausgabe lautete). Winters sortierte sie nach fünf Kategorien („Am Hof des scharlachroten Königs“ [gemeint ist der Teufel], „Wir werden zu Staub“, „Geheimnisse“, „Märchenhaftes“, „Im Schutz der Finsternis“), was keinen echten Sinn ergibt, da sich diese Obertitel nur ausnahmsweise oder ansatzweise in den Geschichten widerspiegeln.
Der Schrecken ist gegenwartstauglich
Natürlich darf Stephen King (*1947) in einer Sammlung dieser Güteklasse nicht fehlen. Er gilt zu Recht als Meister eines Horrors, der sich nicht in finsteren Burgen, verlassenen Friedhöfen oder sonstigen klassischen Spukorten, sondern im Leben des ‚normalen‘, von typischen Alltagsproblemen geplagten (US-) Menschen manifestiert. Nichtsdestotrotz muss man nach King in diesem Umfeld keineswegs auf die Monster der Vergangenheit verzichten. Sie gehen sogar mit der Zeit, steuern hier ein Flugzeug, was den Opferfang enorm erleichtert. Allerdings projiziert King keinerlei schauerlichen Glanz oder - in unserem Fall - Adel auf seine Monster. Sie sind Überlebenskünstler und ziehen grob, blutig und effizient ihre Bahnen.
Auch Clive Barker (*1952) und Michael John Harrison (*1945) bringen altes Grauen in die Gegenwart. Es hat Nischen gefunden, in denen es überleben und weiterhin seinem (nicht aufgeklärten und deshalb erst recht erschreckenden) Drang nachgehen kann, jene Pechvögel zu packen, die sich getäuscht und sicher fühlen in einer ‚modernen‘ Gegenwart, die solchen Entitäten naturwissenschaftlich begründet das Existenzrecht abspricht. (Ausgerechnet) David Morrell (*1943) - Schöpfer des unverwüstlichen Einzelkämpfers John Rambo, aber auch ein exzellenter Stilist und durchaus im Horror daheim - arbeitet die Fragwürdigkeit dieser Haltung heraus. (Seine Story ist in der Auflösung vielleicht dem „klassischen“ Horror ein wenig zu nahe und wird primär durch die Wortgewalt des Verfassers aufgewertet.)
Einige Autoren spielen offen mit erscheinungsfrüheren Vorbildern. Thomas Tessier (*1947) interpretiert Franz Kafka (1883-1924) und dessen 1912 erschienene Erzählung „Die Verwandlung“ neu. M. John Harrison stützt sich auf Arthur Machen (1863-1947) und dessen ebenfalls „The Great God Pan“ betitelte Kurzgeschichte von 1894, Jack Cady (1932-2004) auf Joseph Conrads (1857-1924) Roman „Herz der Finsternis“ (1899), Thomas Ligotti (*1953) auf Lewis Carrolls (1832-1898) (Kinderbuch-) Klassiker „Alice im Wunderland“ (1865) und „Alice hinter den Spiegeln“ (1871). Diese Werke verfügen einen Subtext, der offen oder verdeckt beunruhigende Wahrheiten über das menschliche Wesen enthüllt, oft am ‚Verstand‘ (ver-) zweifelt oder die Ereignisse tatsächlich im Wahnsinn enden lässt.
Der Mensch als Wurzel allen Schreckens
Muss Horror unbedingt aus dem Jenseits stammen? Wie Winter im Vorwort erläutert, ist dies keineswegs verpflichtend. Der beste Horror-Roman der 1980er Jahre ist aus seiner Sicht „Das Schweigen der Lämmer“ von Thomas Harris, der gänzlich ohne Übernatürlichkeiten auskommt. Die Logik dieser These ist durchaus bestechend; schließlich entstammen der fiktive und der reale Schrecken derselben Quelle: dem menschlichen Gehirn. Wird es aus seinem biochemischen Gleichgewicht gebracht, kann es zur Wiege übelsten Grauens werden.
Dennis Etchison (1943-2019) entwirft eine Tragödie der Irrungen & Wirrungen, indem er eine wütende Frau, die einen allzu flüchtig bekannten Mann als Instrument ihrer Rache manipulieren will, an jemanden geraten lässt, in dessen Gegenwart die alltägliche Büro-Niedertracht als nichtig erscheint. Paul Hazel (*1944) konfrontiert uns mit einer Gruppe weltfremder Büro-Zombies, die ausgerechnet ihre Frauenfeindlichkeit in einfallsreiche Monster verwandelt. Noch tiefer und oft unerträglich, weil unerbittlich beschreibt Peter Straub (1943-2022) den einsamen Kampf eines Kindes gegen einen Pädophilen. Weder die gleichgültig-überforderten Eltern noch die abgestumpft in ihren privaten Höllen gefangenen Mitmenschen werden ihm helfen. Ausgerechnet Ramsey Campbell (*1946), Chronist eines Untergangs der modernen Städte, erzählt schwarzhumorig vom irren Muttersöhnchen, dass sich in seinem Wahn verliert und letztlich konsequent zur Tat schreitet.
Charles L. Grant (1942-2006) wandelt erfolgreich auf dem schmalen Grat zwischen Schrecken und Mitgefühl. Sein Protagonist ist ein Außenseiter, der sich die heile Welt seiner Vergangenheit buchstäblich herbeiträumt. Was dann geschehen ist, mischt sich immer eindringlicher in die Handlung, ohne dass der Verfasser es jemals offen ansprechen muss. Whitley Strieber (*1945) öffnet jene Pforte in eine ‚andere‘ Sphäre, die er offenbar selbst sucht/e; in den 1980er Jahren behauptete er, von Außerirdischen entführt worden zu sein, schrieb in mehreren Büchern seine ‚Erlebnisse‘ nieder und driftete dorthin ab, von wo man entweder geheilt (oder wenigstens medikamentös stabilisiert) zurückkehrt oder endgültig der Welt fernbleibt. Sein schriftstellerisches Talent hat darunter erstaunlicherweise nicht gelitten, was auch deshalb auffällt, weil die sich anschließende Geschichte von Jack Cady unter inhaltlichen Logiklöchern leidet, die durch die Schaffung bemerkenswert expliziter Szenen und Stimmungen nicht ausgeglichen werden kann.
Fazit:
In 13 Erzählungen mischt sich klassischer und moderner Horror, ohne diesen blutrünstig auf die Spitze zu treiben. Der Schrecken bleibt hier ein Gefühl, und er muss keineswegs jenseitig sein, denn der Mensch ist immer noch des Menschen schlimmster Wolf: eine Sammlung von Horrorgeschichten, die sich mehrheitlich gruselig gut gehalten haben.
Douglas E. Winter, Heyne
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