Raumstation E1
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1964
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Der Blick voraus - auf Erden und im All
In dieser nicht durch eine Jahreszahl fixierten Zukunft hat der Fortschritt auf Erden dank der Segnungen der völlig ungefährlichen Atomtechnik dafür gesorgt, dass sich die Blicke entschlossener Visionäre endlich nicht mehr nur durch Teleskope ins All richten müssen. Nach diversen gescheiterten Versuchen wird der Flug dorthin ernsthaft in Angriff genommen.
Britische Wissenschaftler sind es, die jene Mischung aus Wissen und Kühnheit verkörpern, die ein solches Unternehmen vorantreibt! An der Spitze der „Königlichen Interplanetarischen Gesellschaft“ steht überlebensgroß Sir Hugh Macpherson, der quasi im Alleingang eine Rakete konstruiert und gebaut hat, die - das hat die Forschung eindeutig bewiesen - zwar auf der Erde starten kann, jedoch erst auf einer Raumstation im Erdorbit die notwendige Schubkraft für einen Mondflug entwickeln wird. Macpherson persönlich sitzt in der ersten Rakete, die als Basis der zukünftigen Raumstation „Erde 1“ 195 Kilometer hoch aufsteigt. Die Fliehkraft wird sie und die zukünftig angeflanschten Module stabil in einer Umlaufbahn halten.
Die Risiken sind gewaltig, was wahre Entdecker nicht schreckt. Schon Macpherson gerät in Raumnot und muss mit einer glücklicherweise parallel gebauten Rakete gerettet werden. Rückschläge werden überwunden, Opfer sind Teil des Preises, der für den Fortschritt zu zahlen ist. Folgerichtig kreist einige Jahre später „E 1“ im Orbit und wird stetig ausgebaut. Macphersons Neffe Hamer Ross besucht die Raumstation. Dort blamiert er sich zwar durch schwerelos bedingtes Ungeschick, doch er lernt schnell: Ross wird dabei sein, wenn sich „E 1“ endgültig zur Stadt im All und Startplatz für zukünftige Expeditionen zum Mond und zu den Planeten entwickelt ...
Traum von der (britischen) Zukunft
Jeffery (eigentlich Geoffrey) Lloyd Castle (1898-1990) gehört zu den Randgestalten der Science Fiction. In seinem langen Leben schrieb er nur zwei Romane. „Satellite E 1“ von 1954 ist spürbar didaktisch geprägt. Castle diente in zwei Weltkriegen als Artillerie-Spezialist, ansonsten war er als Physiker und Ingenieur für die britische Luftfahrt tätig. Mit der Raketentechnik war er als Brite in Berührung gekommen, als die Nazis London mit V1- und V2-Projektilen beschossen. Ihn faszinierte die Nutzung dieser Mordgeschosse im Rahmen einer letztlich bemannten Raumfahrt, die er in seinem Roman propagiert.
Dabei bleibt Castle ein Kind seiner Ära. Als junger Mann war er Bürger eines Imperiums, das sich über große Teile des Globus’ erstreckte. Nach dem Zweiten Weltkrieg war es damit vorbei. Zwar gehörte Großbritannien zu den Siegermächten, doch es wurde immer deutlicher, dass man zukünftig nur noch die zweite Geige hinter neuen Supermächten wie den USA, der Sowjetunion oder China spielen würde - ein Faktor, den Castle vollständig ausblendet. Großbritannien würde den Weltraum erobern, den Mond und den Mars erreichen; daran lässt er in „Raumstation E 1“ keinen Zweifel.
Castles Bild einer fortschrittlich geprägten Zukunft ist technisch geprägt. Diese Sichtweise wird auf eine Spitze getrieben, die uns ob ihrer Naivität heute den Kopf schütteln lässt: „Jeder Junge, der sich [dafür] interessierte, konnte seinen eigenen Atomkrafterzeuger zerlegen und wieder zusammensetzen, ohne Aufsehen zu erregen ...“ (S. 12) Spinner und Terroristen gibt es in dieser Zukunft offensichtlich nicht (mehr).
Dem Zweck beugen sich die Mittel
Sozial und kulturell ist Castle sehr zeitgenössischen und womöglich/hoffentlich schon zu seinen Lebzeiten vergangenen Idealen verhaftet. Sowohl exemplarisch als auch bemerkenswert ist sein Bild der ‚idealen‘ Frau: „Mit einem sicheren Gefühl für alles Wesentlich begabt, heiratete [Hugh Macpherson] schon sehr früh die perfekte Ehefrau. Moira ... schenkte ihm ... drei Kinder, ... die sie mustergültig erzog. Später beschäftigte sie sich mit Vogelkunde, Brauchtum und Übersetzungen aus dem Französischen. Sie war eine liebenswerte Frau und sehr klug. Eine solche Frau darf man ohne Bedenken zurücklassen. Sir Hugh kam daher auch völlig unbelastet von allen Sorgen zu uns ...“ (S. 11) Damit verschwindet Moira aus der Handlung, ohne den Fortschritt mit dem lästigen Pochen auf eigene Bedürfnisse zu beeinträchtigen …
Stattdessen reihen sich Idealisten in jenes Team ein, das Raumstation „E 1“ real werden lässt: „Ich erkannte, dass hier der Platz war, an dem der Mensch arbeiten konnte, ein Platz voll Inspiration, von dem Kleinlichkeit und Bürokratie weggefegt und brüderliche Zusammenarbeit und Streben nach einem hohen Ziel an ihre Stelle getreten waren.“ (S. 88) Politiker u. a. Erbsenzähler und Spielverderber müssen sich dem beugen, zumal die „Königliche Interplanetarische Gesellschaft“ sich selbst finanziert: Das ist wahre Science Fiction!
Nachdem Autor Castle die Vorgeschichte erzählt hat, springt die Handlung endlich an Bord einer „Raumstation E 1“, die sich der Vollendung nähert. Sie gewinnt an Dichte und Dynamik, obwohl das Erzähltempo gemächlich bleibt. Castle will keine Abenteuergeschichte erzählen, sondern zukünftige Realität beschreiben. Eher ungeschickt inszeniert er einige ‚spannende‘ Zwischenfälle, die sich freilich dem Primärziel beugen = belegen müssen, dass eine Rakete oder eine Raumstation kein Ponyhof ist. Der Weg ins All ist gefährlich, und Castle will dies nicht verschweigen.
Wo ein Wille ist ...
Doch der Mensch ist in seinem Entdeckerdrang nicht aufzuhalten, und lässt man Vorsicht walten, bleibt die Zahl jener Pechvögel, die rettungslos ins All abtreiben, zwischen schwerelosen, aber dennoch massiven Bauteilen zerquetscht werden oder anderweitig den Raumtod sterben, erfreulich niedrig. An Bord von „E 1“ gibt Hamer Ross das „Greenhorn“ und tappt in jede Falle, die sich einem Raumfahrer in Ausbildung stellen werden.
Dies geschieht im Dienst der Leser, denen Castle vor Augen führen will, was auf den Menschen wartet, wenn er die sichere bzw. gewohnte Erdoberfläche verlässt. Der zweite Teil dieses Romans, der auf der „E 1“ spielt, ist wesentlich unterhaltsamer, obwohl es wie gesagt keine eigentliche ‚Action‘ gibt. Wir verfolgen Ross Hamer, der jeden Winkel der Station betritt sowie diese im All umkreist. Die betonte Alltäglichkeit einer Zukunft, in welcher der Mensch ‚seinen‘ Planeten verlässt, und seine Fähigkeit, sich in dieser fremden, gefährlichen Umgebung zu behaupten, will Castle in Worte fassen.
Man muss sich auf diese Art einer Science Fiction einlassen, die auch Propaganda sein soll. Jeffery Lloyd Castle reiht sich in die Schar derer ein, die sich für die bemannte Weltraumfahrt einsetzten. An ihrer Spitze stand in den USA Wernher von Braun, der in den 1950er Jahren unermüdlich die Werbetrommel rührte. Auch ähnlich motivierte SF-Schriftsteller entwickelten potenzielle Szenarien einer raumfahrtgeprägten Zukunft (wobei sie lästige Aspekte wie Geldnot, Umweltzerstörung oder sonstige irdische Probleme ignorierten). Autoren wie Arthur C. Clarke (1917-2008) wogen Informations- und Unterhaltungswert ab und erkannten, dass Wissen spannend vermittelt werden muss; Clarkes 1952 veröffentlichter Roman „Islands in the Sky“ (dt. „Inseln im All“) spielt ebenfalls auf einer zukünftigen Raumstation, bietet aber eine echte Handlung und zwar stereotype, aber bewährte Spannungselemente, während Castle informationsstark, jedoch steif und theatralisch besonders dort, wo er Dramatik versucht, höchstens als Zeitzeuge auf einer Mission in Erinnerung bleibt.
Fazit:
Fiktive Chronik einer Raumfahrt, deren Verfasser penibel den Wissensstand der 1950er Jahre berücksichtigt. Daraus resultierende Irrtümer und Fehler sind erträglicher als ein steifer Stil, der die Erzählung mit einem (populären) Sachbuch gleichsetzt, wodurch Klischees und Stereotypen umso deutlicher werden: Was einst die Begeisterung für die Raumfahrt wecken sollte, ist heute eher als Zeitzeugnis interessant.
Jeffery Lloyd Castle, Goldmann
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