Ein Zauberlehrling scheitert aufwändig am alten Meister
In Richmond, einem Vorort von London, gelingt im Jahre 1891 einem Erfinder Unglaubliches: Er baut der Welt erste Zeitmaschine, macht sich sogleich unerschrocken in eine ferne Zukunft auf und gerät auf dem Zeitstrom in manche Turbulenzen, bevor er glücklich wieder heimkehrt (vgl. H. G. Wells: Die Zeitmaschine).
Dort hält es ihn nur kurz. Eine neue Expedition in die Zukunft beginnt, die im Jahre 657.208 n. Chr. ein abruptes Ende nimmt. Schon vorher schwante dem Reisenden nichts Gutes, denn was er vom Sattel seiner Zeitmaschine beobachten konnte, unterschied sich gravierend vom Eindruck der ersten Fahrt: Offenbar hat die Geschichte inzwischen einen völlig neuen Verlauf genommen!
Der Reisende (seinen Namen verschweigt er uns übrigens hartnäckig) landet auf einer Erde, die in völliger Finsternis liegt. Ausgestorben ist sie allerdings nicht; alte, sehr ungern gesehene Bekannte der ersten Zeitfahrt warten auf den Chrononauten – die Morlocks, mutierte, an Affen erinnernde Menschennachfahren, die unter der Erde hausen und nur des Nachts an die Oberfläche schleichen, um Jagd auf die ätherischen Eloi, die zweite Menschenrasse, zu machen.
Zu seinem Schrecken muss der Reisende erkennen, dass alles anders geworden ist: Die Eloi gibt es nicht mehr bzw. hat es nie gegeben; statt dessen haben die Morlocks die Herrschaft übernommen. Ihre Intelligenz ist ihnen geblieben, und sie beweisen es dem Besucher mehr als eindrucksvoll: Die Sonne wurde von ihnen in einer gigantischen Sphäre eingekapselt, die ihren Bewohnern den Lebensraum vieler Milliarden Erden bietet. Diese Morlocks sind zudem friedlich und wissensdurstig. Besonders intensiv widmet sich der Historiker Nebogipfel dem Besucher aus der Vergangenheit. Er schließt sich diesem an, als dieser seine Zeitmaschine besteigt, um die einmalige Gelegenheit wahrzunehmen, die theoretische mit der Feldforschung zu tauschen.
Es gilt einen begründeten Verdacht zu überprüfen: Der Reisende könnte mit der Zeitmaschine den Zeitstrom nachhaltig in Unordnung gebracht haben! Nebogipfel findet jedoch heraus, dass tatsächlich wesentlich Spektakuläreres geschieht. Die Zeitmaschine wechselt mit jedem Start in eine Parallelwelt über, in der die Geschichte sich anders entwickelt. Eine Rückkehr ist unmöglich, so dass der Reisende ";sein” 1891 auf ewig verloren hat. Er reist statt dessen in ein paralleles 1873, um Kontakt mit einem jüngeren parallelen Ich aufzunehmen.
Dieser mutwillige Versuch, ein Zeit-Paradoxon zu provozieren, verblasst angesichts der Erkenntnis, dass ein älteres Ich des Reisenden in einer weiteren Zukunft nicht nur die Zeitreise-Technologie verbreitet, sondern den Startschuss für einen regelrechten Chrononauten-Krieg gegeben hat. Eine britische Zeit-Expedition segelt 1938 den Zeitstrom hinauf, um den Erfinder der Zeitmaschine im Jahre 1873 abzupassen. Seit 1914 tobt ein erbitterter Krieg gegen das kaiserliche Deutschland, der ganz Europa in ein Schlacht- und Trümmerfeld verwandelt hat. Der Reisende soll den Briten der Zukunft bei der Entwicklung einer ultimativen Zeitwaffe helfen, die endlich den Sieg bringen soll. Aber der Reisende und Nebogipfel wollen sich nicht einmischen. Sie werden in ein freudloses Großbritannien gebracht, das sich nach Jahrzehnten des Ausnahmezustandes in eine faschistoide Diktatur zu verwandeln droht. Daher stehlen sie eine Zeitmaschine und fliehen in die Vergangenheit und weitere Zeiten – eine Irrfahrt, welche die Weichen der Geschichte ein weiteres Mal in neue Bahnen lenkt…
Die Fortsetzung als Weg, den Klassiker zu ehren?
Fortsetzungen erzählen – so lautet eine Faustregel, die von den Kritikern dieser Welt immer wieder gern aus der Mottenkiste gekramt wird – die ursprüngliche Geschichte leicht variiert noch einmal, wobei deren Originalität durch knalligere Effekte ersetzt wird. Da ist durchaus etwas dran, wie Stephen Baxter mit dem hier vorgelegten Werk eindrucksvoll unter Beweis stellt. ";Die Zeitmaschine”, H. G. Wells’ Science Fiction-Klassiker aus dem Jahre 1895, ist ein kaum 160 Seiten starker Kurzroman, der indes Maßstäbe setzte – und sei es nur deshalb, weil er der erste ";richtige” Zeitreise-Roman war und Wells ein Subgenre begründete, das zu den beliebtesten der SF überhaupt werden sollte.
Aber ";Die Zeitmaschine” ist – obwohl leicht angestaubt – darüber hinaus noch immer ein spannendes Stück Unterhaltungs-Literatur, das auch in weiteren einhundert Jahren sein Publikum finden wird. Ob das auf Baxters ";Zeitschiffe” ebenfalls zutreffen wird, muss sich noch herausstellen. Als ";normaler” SF-Roman kann das Werk problemlos bestehen – ein buntes, turbulentes Abenteuer-Garn, das viele Stunden unbeschwerten und anspruchslosen Lektüre-Vergnügens garantiert. Aber die ";Zeitschiffe” wurden als deutlich ambitionierteres Projekt auf Kiel gelegt: als ";offizielle” Fortsetzung zu Wells’ ";Zeitmaschine” anlässlich des 100. Geburtstags dieses Klassikers im Jahre 1995. Daher muss sich Baxter nun dem direkten Vergleich stellen – und das beschert ihm mehr als das sprichwörtliche blaue Auge!
Bereits der Umfang des Werkes (mehr als 700 Seiten!) lässt Misstrauen aufkommen: Plant der Verfasser sein Publikum etwa mit einem erzählerischen Overkill zu überrumpeln? Tatsächlich lässt Baxter echten epischen Atem vermissen. ";Zeitschiffe” weist keine durchgängige Handlung auf, sondern stellt sich als Folge mehrerer mehr oder weniger verbundener Fortsetzungsgeschichten höchst unterschiedlicher Qualität dar. Schon Teil 1 lässt Wells völlig links liegen und präsentiert eine Space Opera, wie sie Gregory Benford oder Larry Niven produzieren: eine Art Ringwelt mit Morlocks.
Keineswegs einfallsreicher fällt Baxters Ausflug in ein alternatives Europa aus, das den I. und II. Weltkrieg simultan führt. (Hier greift Baxter anscheinend nicht auf Wells’ Roman, sondern auf den Film von 1960 zurück, der kurz in einem England im III. Weltkrieg spielt…) Nichts Neues unter der ";Was wäre, wenn…”-Sonne, muss man konstatieren; es fehlt nicht einmal das obligatorische name-dropping, das reale Persönlichkeiten der Weltgeschichte in ungewöhnlichen Rollen auftauchen lässt. Leider winkt Baxter auch hier mit ganzen Zaunpfahl-Reihen; so darf man sicher sein, dass George Orwell himself nicht weit ist, wenn Baxter dessen ";1984” neu in Szene setzt. Natürlich taucht auch der echte H. G. Wells auf; er wirkt etwa so recht am Platze wie einst Mark Twain in ";Star Trek – The Next Pappmaché Generation”. Immerhin: Obwohl ein Teil der ";Zeitschiffe” um 1940 spielt, erscheint kein Adolf auf der Bildfläche.
Nächstes Modul: eine ";Jurassic Park”-Robinsonade, wenn auch ohne Saurier, aber mit angriffslustigen Riesen-Urvögeln, routiniert abgespult & absolut unerheblich für die Gesamt-Geschichte – ein reines Seitendreschen und gewiss die schwächste der ";Zeitschiffe”-Episoden. Allerdings wartet Baxter im Anschluss mit einem echten Knalleffekt auf: Wenn man schon gar nicht mehr damit rechnet, entwickelt ";Zeitschiffe” urplötzlich doch noch jene epische Qualität, die das Original zum Klassiker erhob. Baxters Odyssee zurück zum Anfang allen Seins ist eine fabelhafte Tour de force, die mit Wells spiegelbildlichem Ausflug ans Ende der Zeit endlich mithalten kann. Hier fühlt sich der Autor sichtlich wohl und auf sicherem Terrain, spielt sein physikalisch-astronomisches Wissen aus und präsentiert mit spielerischer Eleganz sowie auf dem Kenntnisstand der modernen Forschung nicht nur die komplexe, weil die Grenzen der menschlichen Vorstellungskraft erreichende und manchmal sprengende ";Lebensgeschichte” des Universums seit dem Urknall, sondern erzählt diese Biografie auch noch in nicht chronologischer Reihenfolge!
Auch literarischer Quark wird getreten eher breit als stark
Dieser vorzügliche gelungene Handlungsbogen versöhnt mit dem Geplätscher der Vorgeschichte sowie mit dem schlappen Ende, das in Wells Zukunft des Jahres 802.701 mündet und den Zeitreisenden zunächst bei der Rettung der Eloi-Frau Weena vor den nun wieder bösen Morlocks und später beim Versuch zeigt, zwischen der über- und unterirdischen Welt Frieden zu stiften. Hier bricht die Geschichte ab (Fortsetzung möglich, aber bisher gottlob ausgeblieben), obwohl sie problemlos dem Werk angeklebt werden könnte – und so weiter, und so fort. Aber Verfasser und Verlag waren wohl zu dem Entschluss gekommen, dass 700 Seiten ausreichen, das ";Zeitmaschine”-Jubiläum gebührend zu feiern.
In Deutschland wurde ";Zeitschiffe” pünktlich im Jahre 1995 und mit einigem Presse- und Werberummel vom Heyne-Verlag auf den Buchmarkt geworfen, ohne offensichtlich die Leserschaft zu Begeisterungsstürmen hinzureißen. Dabei prunkte der Band sogar mit einem festen Einband – das erste Taschenbuch, dem solche Veredelung widerfuhr, und Zeugnis einer ebenfalls nicht gerade Furore machenden Strategie, dem Publikum überhöhte Buchpreise durch eine scheinbar aufwändigere Ausstattung schmackhafter zu machen. Sieben Jahre später folgte eine Neuveröffentlichung. Der Anlass: die aktuelle Kino-Neuverfilmung der originalen ";Zeitmaschine”.
Fazit: ";Zeitschiffe” ist als ";Jubiläums-Fortsetzung” eines alten SF-Klassikers etwa so sinnvoll wie ein Kropf, als eigenständiger Roman mindestens kurzweilig und im Finale manchmal genial – solides Lesefutter also, nie mehr, aber auch nie weniger (und selbstverständlich bar jeglicher Zivilisationskritik, die Wells so wichtig war und die auch Baxter manchmal beschwört – allerdings sichtlich als lästige Pflichtübung ohne jede Durchschlagskraft).
Stephen Baxter, Heyne
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