Wandler Weird Anthologie
- Wandler Verlag
- Erschienen: August 2023
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Zwölf grässliche klare Momente der Erkenntnis
Zwölf moderne Horrorgeschichten, in denen das Grauen sich nicht auf andeutungsschwaches Spuken beschränkt:
- Michael Schmitt: Vorwort, S. 8-10
- Jeffrey Thomas: Geister in Bernstein (Ghosts in Amber; 2015), S. 12-43: Die Expeditionen in die aufgegebene Firma lenken ihn von seinen Alltagssorgen ab - und locken ihn wie geplant in die Falle.
- W. H. Pugmire: Lache, Bajazzo (The Zanies of Sorrow; 2001), S. 44-61: Der gutgemeinte Zauber stürzt die davon Betroffenen in eine buchstäblich end- und trostlose Existenz.
- Scott Thomas: Die Lichtung (The Circular Field; 2012), 62-77: Als Großmutter und Enkelin nachschauen, ob sie auf dem baumfreien Landstück noch einen dieser hübschen Steine finden, warten die erzürnten Eigentümer auf sie.
- Jessica Landry: Auch im Dunkeln werde ich Dich finden (I Will Find You, Even in the Dark; 2021), S. 78-108: Geister müssen zukünftig nicht mehr aus dem Jenseits kommen, sondern können dich digital heimsuchen.
- S. G. Jones: Von Wölfen und Menschen (Doc´s Story: 2014), S. 110-129: Auch Werwölfe hüten und verdrängen bedrückende Familiengeheimnisse.
- Anne Neugebauer: Der Gesang der Sirene (So Sings the Siren; 2017), S. 130-135: Der optimale Kunstgenoss ist nur durch brutalste Folter zu erzwingen.
- Philip Fracassi: Altar (Altar; 2016), S. 136-172: An einem heißen Sommertag verwandelt sich das abgewirtschaftete Schwimmbad in eine Todesfalle.
- Christopher Slatsky: Der unermessliche Kadaver der Natur (The Immeasurable Corpse of Nature; 2020), S. 174-233: Hightech-Naturwissenschaft und Sektenwahn öffnen dem Leben einen gänzlich neuen, abscheulichen aber kraftvollen Weg.
- Richard Gavin: Ein leises Bellen aus der Ferne (Faint Baying from Afar; 2012), S. 234-249: Die Spur des mysteriös verstorbenen (und verdorbenen) Bruders führt dorthin, wo die Lösung und der Neustart in eine gänzlich neue Existenz warten.
- Maura McHugh: Diät (The Diet; 2021), S. 250-269: Der dicke Frank beginnt ein neues Leben, das ihn dorthin führt, wo mächtige Kreaturen seit Urzeiten auf ihre Befreiung warten.
- Laird Barron: Die Männer von Porlock (The Men from Porlock; 2011), S. 270-324: Mitglieder einer Holzfällermannschaft müssen erfahren, dass die beunruhigenden Legenden über einen seltsamen Ort noch weit untertrieben sind.
- Ramsey Campbell: Die letzte Offenbarung von Gla’aki (The Last Revelation of Gla’aki; 2013), S. 326-454: In dem Nest an der englischen Nordseeküste warten neun seltene Bücher auf ihn, doch während er eines nach dem anderen einsammelt, ballen sich urzeitliche Kräfte, die sich spektakulär, aber zu seinen Ungunsten entladen.
Schreckliches Glück für resignierte Leser
Manchmal sorgt kurioserweise ein Glücksfall für die traurige Erkenntnis, dass man sich als Fan des gedruckten Horrors einerseits notgedrungen, andererseits schleichend damit abgefunden hat, nicht mehr in goldenen Lektüre-Zeiten zu leben. Vor allem die (internationale) Kurzgeschichte ist hierzulande weitgehend vom Markt verschwunden. Retorten-Grusel in Serie ist zur Regel geworden, wobei gleichgültig ist, ob es blutig oder ‚atmosphärisch‘ zugeht. Einfallsarm wird kopiert, was gerade ‚geht‘ in jenen Shopketten, die dem Buchladen den Garaus gemacht haben.
Man will sich nicht mit Dumpf-Spuk betäuben lassen, doch als Leser wird man von den Großverlagen geradezu auf Billigware dressiert. Wie sehr man darunter leidet, merkt man erst, wenn endlich einmal echter Horror präsentiert wird. Der Titel „Wandler Weird Anthologie“ ist nicht gerade ein Lockmittel, und optisch kommt dieses Buch allenfalls unauffällig daher. Nichtsdestotrotz ist es eine Offenbarung, denn es enthält - in vorzüglichen Übersetzungen! - zwölf Gruselgeschichten, die weder Horror-Junkfood sind noch sich bemühen, die Splatter-Schraube ein paar Umdrehungen weiter zu quälen.
Stattdessen wird literarisch Schrecken gesät - effektvoll, gekonnt, erfindungsreich. Dass dabei das Rad nie neu erfunden wird, ist kein Beinbruch: Die Variation des Bewährten ist ein probates Mittel der Unterhaltung. In dieser Anthologie wird durchdekliniert, was klassischer bzw. echter Horror sein kann und sein sollte: unheimlich, ohne auf faule Tricks zurückzugreifen, und stilistisch dem Plot angepasst, statt Form und Inhalt voneinander zu trennen und durch Theatralik Stimmung zu erzwingen.
Das glorreiche Grusel-Dutzend
Herausgeber Michael Schmitt hat sich vor allem umgesehen, wer in den letzten Jahren für den „Bram Stoker Award“ nominiert war oder ihn gewonnen hat. Generell fiel sein Blick auf in Deutschland wenig oder gar nicht bekannte/übersetzte Autoren. Wieder einmal bestätigt sich die Relevanz der Kurzgeschichte: Sie ist eine Spielwiese für Ideen, die ihre Wirkung in der heute typischen Breitwalzung oft einbüßen. Hier muss unbedingt Laird Barron (*1970) hervorgehoben werden, der einen fabelhaften Plot - dies ist doppeldeutig gemeint! - vor einer großartig herausgearbeiteten Kulisse ablaufen lässt, in die er wunderbar ausgeformte Figuren setzt. Selten wird derart deutlich, dass Märchen diffusem, aber tief empfundenem Schrecken eine Form und damit die Möglichkeit zur Bewältigung geben.
Jenseits seiner „Punktown“-Saga, die auf einem fernen Planeten spielt und Science Fiction mit Horror à la H. P. Lovecraft kombiniert, erzählt Jeffrey Thomas (*1957) eine unheimliche Geschichte, die durch die Verflechtung mit dem unglücklichen Privatleben eines aus dem Lot geratenen Menschen gewinnt, aber nicht sämtliche Rätsel auflöst. Als Leser muss man sich zusammenreimen, was vorgeht; macht man sich die ‚Mühe‘, die eingestreuten Hinweise zu ordnen, ist dies möglich.
Jeffreys Bruder Scott Thomas (*1975) greift auf die klassische Gespenstergeschichte zurück. Unwissenheit schützt vor übernatürlicher Strafe nicht: Vor allem M. R. James (1862-1936) schilderte wieder und wieder voller Wonne, wie Pechvögel ahnungslos, aber folgenstark bösartige Geister heraufbeschwören. Scott Thomas erweist ihm gekonnt seine Reverenz. William Hopfrog Pugmire (1951-2019) stützt sich ebenfalls auf ein klassisches Gruselthema, dessen Grauen jedoch in der Tragik liegt, die einem Fluch innewohnen kann. Jessica Landry (*1986) vermag nicht wirklich herauszustellen, was ein ‚digitales‘ Gespenst auszeichnet. Dennoch wirkt ihre Erzählung höchstens in diesem hochklassigen Umfeld schwächer!
Faszinierender Schrecken - grässliche Erkenntis
Richard Gavin lässt sich vom bereits erwähnten Lovecraft (1890-1937) inspirieren. Er setzt eine frühe Story fort, die 1924 unter dem Titel „The Hound“ veröffentlicht wurde. Gavin verknüpft sie nun mit dem „Cthulhu“-Mythos. Einen Schritt weiter geht Maura McHugh. Auch ihre Story basiert auf Lovecraft, formuliert jedoch die Konsequenzen einer Verbindung mit dem ‚Bösen‘ neu: Am Ende steht nicht der Untergang oder das Aufgehen in einer fremdartig-unheimlichen Fremd-Gemeinschaft, sondern eine echte Alternative zum freudlosen Alltagsleben. Dagegen unterstreicht Christopher Slatsky wie Lovecraft, aber mit eigenen, bizarren Einfällen, die Unmenschlichkeit eines solchen Neubeginns, ohne diesen dabei zu bewerten.
Abermals auf Lovecraft beruft sich Ramsey Campbell (*1946), der als junger Autor das Vorbild zunächst wie andere Bewunderer/Autoren imitierte, dann jedoch seinen eigenen Zugang zum „Cthulhu“-Mythos fand. Er schuf mit Gla’aki seinen eigenen „Großen Alten“, der sich vor allem in England rührt, und schildert seit Jahrzehnten in zahlreichen Storys die dramatischen Folgen. Formal bewusst anders, aber im Effekt ähnlich eindringlich zeichnet Campbell nach, wie ein Pechvogel dorthin gerät, wo man ahnungslosen Tröpfen wie ihm buchstäblich Fallen stellt, damit sie sich in die Dienerschaft einer obskuren Macht einreihen, die ihre Herrschaft über die Erde wiederherstellen will. Meisterhaft sorgt Campbell für Irritationen, während er die Schraube immer stärker anzieht und die Odyssee seines ohnehin vom Leben angeschlagenen Protagonisten in eine Reise ohne Wiederkehr verwandelt. „Die letzte Offenbarung von Gla’aki“ ist ein Kurzroman, keine Erzählung, weshalb der Verfasser dies ebenso quälend wie spannend ausloten kann.
Die Wucht des Alltagsschreckens lassen Stephen Graham Jones (*1972), Anne Neugebauer und Philip Fracassi (*1970) über uns kommen. Werwölfe führen aus gutem Grund ein möglichst unauffälliges, ‚paralleles‘ Leben neben uns normalen Menschen; die Kunst triumphiert in dieser Welt über Gesetz und Moral, weshalb Folter und Mord gesellschaftlich akzeptiert sind; ausgerechnet ein vergammeltes Schwimmbad in der Provinz verwandelt sich in eine monströse Todesfalle: Das ist moderner Horror, dessen Verursacher sehr genau wissen, wo sie ansetzen müssen, um ihn wirkungsvoll zu entfesseln!
Fazit:
Überdurchschnittliche Sammlung ausgezeichneter Horrorgeschichten, die jenseits kurzlebiger (populär-) literarischer Moden um den Schrecken kreisen, ohne ihn im Finale aufzuspießen: eine Anthologie mit Vorbildcharakter!
Michael Schmitt, Wandler Verlag
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