Am Anfang war nur Chaos
- Pabel
- Erschienen: Oktober 1955
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Düsteres Paradies in einer zerstörten Welt
Georg Putnam erfreut sich seines Lebens in diesem schönen Sommer des Jahres 1961. Er ist jung, gesund und hat es gerade zu viel Geld gebracht. Außerdem wird er die schöne Ruth heiraten. Gut gelaunt nimmt er die Einladung eines Freundes an. Professor Judkins ist ein genialer Wissenschaftler, der sich grämt, dass er aufgrund seines fortgeschrittenen Alters die Wunder der Zukunft nicht mehr erleben wird. Für ihn soll der ahnungslose Putnam einspringen. Judkins betäubt und verfrachtet ihn in eine Hightech-Gefriertruhe.
Man weckt Putnam nach genau 100 Jahren; so hat es Putnam festgelegt. Ruth deckt längst der kühle Rasen, und die Zukunft ist nicht der vom Professor ersehnte Ort unglaublicher Fortschritte. Ende des 20. Jahrhunderts hat ein Komet die Erde mit giftiger Strahlung entvölkert, der eine neue Eiszeit folgte. Nur noch 3000 Menschen existieren unter einer gigantischen Glaskuppel, denn die Erdatmosphäre ist - davon ist man Anno 2061 überzeugt - verschwunden.
Die kleine Kolonie wird diktatorisch von einer kleinen Elite geknechtet, die sich durch brutale Gewalt an der Macht hält. Putnam, der ‚Gast‘ aus der Vergangenheit, ist dem Regime unwillkommen. Es entledigt sich seiner Gegner in der Regel durch ‚Verbannung‘ in die eisige Außenwelt. Auch Putnam soll die Kuppel verlassen, was seinen Tod bedeuten würde - und soll: Die Außenwelt wird zu allem Überfluss von „Ungeheuern“ bewohnt.
Putnam lernt die neue Welt schnell zu verachten. Er lässt sich nicht einschüchtern, zumal sich des Diktators hübsches Töchterlein in ihn verliebt. Da Putnam sich notfalls handgreiflich seiner Haut zu wehren weiß, wird man ihn nicht los. Als die „Ungeheuer“ in großer Zahl vor der Kuppel auftauchen und sich als in Pelze gewandete Menschen entpuppen, ist sein Rat plötzlich gefragt. Die Erdatmosphäre hat sich regeneriert, und es starben nicht alle Amerikaner. Allmählich erwärmt der Planet sich wieder. Man könnte die Kuppel verlassen, aber sowohl das Regime als auch seine unterdrückten Bürger fürchten die Ungewissheit des Neubeginns. Putnam versucht zu vermitteln - und gerät erst recht zwischen alle Fronten ...
Obskur & verwickelt
Mit „Am Anfang war nur Chaos“ tauchen wir tief in die Geschichte der trivialen Phantastik ein. Ab 1926 begann in den USA die Ära der „Pulps“, jener ‚Groschenhefte‘, die auf billiges Papier gedruckt spannende Geschichten aller Genres präsentierten; im genannten Jahr startete mit „Amazing“ eines der prominentesten Magazine. Es gab jedoch gab schon früher zahlreiche Publikationen, die möglichst kostengünstig für Unterhaltung sorgten.
Als der hier vorgestellte Roman 1955 in Deutschland erschien, fabulierte Herausgeber und Übersetzer Walter Ernsting eine Autoren-Biografie zusammen, die angeblich kurz nach der Veröffentlichung in den USA tragisch durch Selbstmord geendet habe. Tatsächlich wechselte der Verfasser nur das Genre und schrieb bis zu seinem Tod Thriller.
John Frederick MacIsaac (1886-1940) war schon 1921 als Autor aktiv. Als „Francis Moore“ veröffentlichte er ab 1921 und keineswegs nur Phantastik. Tatsächlich stellen jene SF-Erzählungen, die er zwischen 1926 und 1933 schrieb, nur einen Teil seines Gesamtwerks dar. „Hothouse World“ - hier ‚übersetzt‘ als „Am Anfang war nur Chaos“ - erschien wie beinahe sämtliche SF-Geschichten MacIsaacs im Magazin „The Argosy“ (Februar/März 1931). Erst 1950 veröffentlichte ein eher obskurer Verlag eine Gesamtausgabe, die Ernsting vermutlich vorlag.
Magnetismus des Trivialen
Pulp-Phantastik muss bzw. kann man lieben oder hassen. Unzählige Magazine gierten nach erzählerischem Input, was jene lockte, die mit der Feder ihren Lebensunterhalt verdienen wollten. Die Realität war hart, denn dies gelang nur, wenn man Masse über Klasse stellte. Die Magazine waren berüchtigt für ihre miserablen Honorare - wenn sie überhaupt zahlten Viele späte berühmt gewordene Autoren haben in diesem Haifischbecken überlebt und Großes geleistet, doch selbst die Fans der Pulps leugnen nicht, dass oft unglaublicher Mist auf holziges Papier gedruckt wurde, der zu Recht (und zum Wohle seiner Verursacher) in Vergessenheit geriet.
Fred MacIsaac gehört nach Ansicht der wenigen Kritiker, die sich heute an ihn erinnern, zu den besseren Vertretern seiner vielschreibenden Zunft. Man kann dies bezweifeln, wenn man nur „Am Anfang ...“ kennt, wobei man MacIsaac womöglich in Schutz nehmen muss: Die deutsche Fassung wurde vermutlich gekürzt, und/oder Walter Ernsting (der als „Clark Darlton“ zu den Pionieren der deutschen SF nach dem Zweiten Weltkrieg gehört) leistete als Übersetzer keine gute Arbeit (um es freundlich auszudrücken): Auch er stand stets unter Geld- und Zeitdruck.
Die Handlung leidet außerdem unter einer ‚wellenförmigen‘ Verlaufsstruktur. Jede der sechs Teillieferungen hatte in einem Höhepunkt zu gipfeln, der die Leser neugierig auf die Fortsetzung machen (und sie die nächste Ausgabe des Magazins kaufen) lassen sollte. Dies gab den Rhythmus vor: Das Geschehen ist sprunghaft, und die Logik des Handelns unterliegt stets dem Drang zur ‚Action‘. Hinzu kommen redundante Passagen, die dem Zweck dienen, die Handlung durch eingeschobene Episoden zu strecken.
Die Last des Anspruchs
Dabei hat MacIsaac durchaus einen Anspruch. In der SF ist die Apokalypse und der sich daran anschließende ‚Neustart‘ eine Gelegenheit, die beschriebenen Versäumnisse der Vergangenheit mit der realen Gegenwart zu verknüpfen: So könnte es uns ebenfalls ergehen, wenn wir nicht rechtzeitig gegensteuern! Zwar kommt der Untergang hier aus dem All und trifft eine daran schuldlose Menschheit, doch der böse Keim zukünftigen Unheils überlebt und entwickelt sich prächtig: Ein Gewaltregime prasst auf Kosten einer unterjochten Mehrheit!
Das ist völlig unamerikanisch, hat sich aber so tief eingeschliffen, dass ein Repräsentant der von solcher Degeneration nicht angekränkelten Vergangenheit das Ruder herumreißen muss. Georg Putnam ist die Verkörperung des Pioniers, der in der Krise Kraft und Charisma ausströmt und handfest ausrottet, was dem US-Geist, wie er ihn definiert, widerspricht. Das betrifft interessanterweise nicht nur das Regime, sondern auch die resignierten Bürger: So unsolidarisch und feige verhält sich kein echter Amerikaner = Mensch, weshalb Putnam diese Schwächlinge ausgiebig verachtet!
Allerdings findet sich auch außerhalb der Kuppel nicht das Paradies. Die dort überlebenden Erdmenschen sind dumm und gierig, weshalb Putnam nach einer separaten Alternative für ein Leben in Freiheit suchen muss. Bis es soweit ist, fallen diejenigen, die nicht mitziehen wollen oder können, wie die Fliegen: Nicht nur in der SF der 1930er Jahre gab es wenig Raum für jene Haltung, die man heute als „politisch korrekt“ zelebriert. Die 1931 auch in den USA durchschlagende Weltwirtschaftskrise sorgte auch oder gerade in der Unterhaltungsliteratur für Härte, da man sich Rücksicht nicht glaubte leisten zu können sowie allgemeines Durchhalten propagierte.
Fazit:
Turbulentes, aber grob gewirktes „Post-Doomsday“-Garn. Die Figuren sind flach; auch sprachlich ist die Geschichte (verstärkt durch die laue Übersetzung) arm. Dennoch wird deutlich, dass der Autor eine (simple) Botschaft vermittelt: exemplarische und unverstellte Trash-Phantastik aus der Hochzeit der US-Pulp-Magazine.
Fred MacIsaac, Pabel
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