Vor der Revolution: Ein phantastischer Almanach - Erste Folge
- Carcosa
- Erschienen: Oktober 2023
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Versuchsballon, gefüllt mit Qualität und Hoffnung
Im Spätherbst des Jahres 2023 tauchte auf dem deutschen Buchmarkt ein neuer Verlag auf, dessen Programm der klassischen SF-Phantastik gewidmet ist, und dem man - als altgedienter Leser und deshalb vielgeprüfter Zyniker - nur viel Glück wünschen kann. Besagter Verlag ist klein bzw. fängt klein an, plant aber Großes = neue, aber auch erstmals werktreu übersetzte Erzählungen und Romane bekannter Autoren, deren Werke hierzulande in der Vergangenheit nicht immer so erschienen, wie es ihnen zukam: ‚Kundige‘ Redakteure, die ‚wussten‘, was ‚ihre‘ Leser (bzw. zahlende Kunden) wollten, sorgten dafür, dass ‚langweilige‘ und ‚verstörende‘ Passagen gekürzt wurden, um ‚das Abenteuer‘ einer fernen Zukunft hervorzuheben.
Der Verlagsname „Carcosa“ erklärt sich aus einer Kurzgeschichte des US-amerikanischen Schriftstellers Ambrose Bierce (1842-1913/14), die den hier vorgestellten „Almanach“ einleitet. Das Ziel ist hehr, die Auswahl der zukünftig herausgegebenen Autoren sowohl erstaunlich als auch mutig: Ursula K. Le Guin (1929-2018), Joanna Russ (1937-2011), Leigh Brackett (1915-1978), Samuel R. Delany (*1942) und Gene Wolfe (1931-2019). Drei Frauen, zwei Männer: Dies mag gewollt bzw. „woke“ wirken, was jedoch kein Nachteil wäre, denn nicht das Geschlecht, sondern das erzählerische Talent definiert die Qualität einer Geschichte. In dieser Hinsicht kann Herausgeber Hannes Riffel mit Le Guin, Russ und Brackett nichts falsch machen.
Die Auswahl versammelt Autoren, die stilistisch und inhaltlich kaum miteinander zu harmonieren scheinen. Vor allem Brackett wurde zwar für ihre spannenden Planetenabenteuer gelobt, aber trotzdem als Autorin mit einem scharfen, keineswegs kritiklosen Blick auf politische und gesellschaftliche Realitäten übersehen. Aus Sicht des „Carcosa“-Teams erfüllte auch sie der Wille, in einem Genre, das lange ‚nur‘ als Unterhaltungsträger und damit literarisch ‚minderwertig‘ galt, jenseits trivialer Garne elementare Fragen des Menschseins zu stellen. Das Reizvolle sind die unterschiedlichen Arten und Weisen, auf die Le Guin, Russ, Brackett, Delany und Wolfe dabei vorgehen.
Einführung für neugierige Phantastik-Freunde
Die weiter oben geäußerten Glückswünsche gründen auf der Tatsache, dass die Arbeiten der fünf genannten Autoren quasi diametral zur modernen Bestseller-Science-Fiction stehen. Genau dies wird als Begründung für das „Carcosa“-Projekt genannt. Im Wissen darum, dass man das Publikum einer „Star-Wars“-geprägten Dumm-Bumm-SF wohl nicht erreichen wird, hofft man auf jene Leser, die über diesen flachen Tellerrand hinausschauen möchten. Es gibt viel Interessantes zu finden, und das „Carcosa“-Team möchte als Gästeführer helfen, sich dort zurechtzufinden, wo ein Text das Geschehen nicht ohne leserseitiges Nachdenken freigibt.
Dass man sein Publikum fordern kann und soll, ist von der Trivialindustrie stets als Risikofaktor betrachtet worden. Füll’ den Trog mit dem, was möglichst vielen Schweinen schmeckt; so könnte man drastisch die Folgen beschreiben. Während Brackett dem Genre-Mainstream - der sich um in ihrer Freizeit offensichtlich schlagartig hirnfreie Leser kümmert - scheinbar bediente, sich aber durch ihre Wendigkeit - sie schrieb Science Fiction, Fantasy, Krimis, Western - auszeichnete, wateten Le Guin und Wolfe, aber vor allem Russ und Delany entschlossen gegen den Strom.
Kundige Artikel vermitteln die komplexen Ansätze, mit denen dieses Quintett die Phantastik als Instrument aufregender, manchmal revolutionärer Gedankenspiele nutzte. Dass diese Werke schon Jahrzehnte alt sind, ‚adelt‘ sie nicht zu jenen von einer Staubschicht bedeckten Klassikern, die man ehrt, indem man sie so selten wie möglich aus dem Buchregal zieht. Zudem macht der offene Blick auf diese Werke deutlich, dass viel von dem, was wir als Errungenschaft einer progressiven Gegenwart betrachten, schon früher als erwartet angelegt war.
Ausblick auf weitere Attraktionen
Ist man mit Leben und Werk der genannten Autoren vertraut gemacht, folgen drei Storys von Le Guin und der Kurzroman „Imperiumsstern“ von Delany. Vor allem letzterer begeistert und überrascht, weil er absolut ‚frisch‘ wirkt. Dabei wurde er 1966 als Teil eines „Ace Doubles“ mit einem anderen SF-Roman zusammengebunden und für ein paar Kupfermünzen feilgeboten! Man kann sich die vergangene Verfügungsbreite grandioser SF kaum vorstellen, weil SF inzwischen in Endlosserien mit Teilbänden à 1000 Seiten in den heutzutage dominierenden Abverkaufsstationen - Buchläden gibt es praktisch nicht mehr - verklappt werden.
Darüber hinaus folgt der Ausblick auf ein weiteres vergessenes Meisterwerk, das im „Carcosa“-Programm erscheinen wird. Alan Moore war bisher primär als Autor bahnbrechender Comic-Serien wie „V for Vendetta“, „From Hell“ oder „Watchmen“ bekannt, hat aber auch den Roman „Jerusalem“ geschrieben. Dietmar Dath legt uns diesen Titel nachdrücklich ans Herz, was sich jedoch nur bedingt aus seinem Text erschließt: Dieser ist das Paradebeispiel für eine Informationsvermittlung, die in einem Wust fachbegrifflich überfrachteter, schwurbeliger Formulierungen versackt sowie neben der Allgemeinverständlichkeit einen roten Faden vermissen lässt - ein Manko, dass die übrigen Autoren vermeiden, weil sie eben nicht nur für einschlägig vorgebildete Akademiker schreiben (wollen).
Nicht im Haus „Carcosa“ erscheinen die „Werke in Einzelausgaben“ von Karl-Heinz (und Angela) Steinmüller. Hier schlägt Herausgeber Riffel einen Bogen zum „Memoranda“-Verlag, dem „Carcosa“ als Imprint angehört. Steinmüller begann seine Schriftsteller-Laufbahn in der DDR, wo er sich ungeachtet staatlicher Einschränkungen eine Reputation erwarb, die er nach 1989 durch neue, ebenfalls wirkungsstarke Erzählungen bestätigte und ausbaute. Dafür verdient er nach Ansicht des Herausgebers mehr Resonanz, als ihm bisher offenbar gewährt wurde.
Wird es eine „Zweite Folge“ dieses Almanachs geben? Die Geschichte der deutschen SF ist ein verschlungener Pfad, der von unzähligen Friedhöfen gesäumt wird. Hier liegen jene Projekte, die mit großen Intentionen und Herzblut gestartet wurden, aber schnell verendeten, weil die träge Leserschaft nicht in ausreichender Zahl Geld für ungewöhnliche Phantastik ausgeben mochte. Hat sich dies geändert? Eigentlich nicht, weshalb man dem „Carcosa“-Team erst recht die Daumen drückt (sowie sich über eine schlichte, aber wirkungsstarke Cover-Gestaltung freut, die jenseits des heute üblichen „stockphoto“-Ramsches auf jeweils dem Titel zugeschnittene ‚Ikons‘ der Grafikerin Susanne Beneš setzt).
Fazit:
Ein neuer Verlag stellt sich bzw. seine Autoren und ihre Werke ausführlich und exemplarisch vor. Das Schwergewicht liegt auf Qualitäts-SF, die nicht konsumiert werden, sondern unter Einsatz des Leser-Hirns genossen werden soll; ein ehrgeiziges Projekt, dem man Erfolg wünscht!
Hannes Riffel, Ursula K. Le Guin, Samuel R. Delany, Carcosa
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