Geschichten, bei denen es sogar mir graust
- Heyne
- Erschienen: Januar 1980
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Neunmal Verhängnis ohne Ausweichmöglichkeit
- Donald E. Westlake: Reise in den Tod (Journey to Death; 1959), S. 7-16: Das Schiff versinkt, doch in einer Luftblase überleben zwei (zunehmend hungrige) Passagiere.
- Robert Somerlott: Nach Jahr und Tag (Evening at the Black House; 1964), S. 16-28: So tief in der Wildnis sich die Altnazis auch verkrochen haben, sie entgehen der Rache nicht!
- William Sambrot: Tod eines anderen Handelsreisenden (Tough Town; 1957), S. 28-36: Pech ist, wenn du nicht nur erfolglos bist, sondern auch mit einem Serienkiller verwechselt wirst.
- Fritz Leiber: Zebrastreifen (X Marks the Pedwalk; 1963), S. 36-41: Wer diese Straßen betritt, ist Freiwild, doch mancher Fußgänger schießt buchstäblich zurück.
- Nugent Barker: Mr. Bonds seltsames Abenteuer (Curious Adventure of Mr. Bond; 1939), S. 41-65: Mr. Bond gerät an drei Brüder, die jeweils ein Gasthaus mit düsterem Geheimnis führen.
- Thomas M. Disch: Casablanca (Casablanca; 1967), S. 65-87: Als die USA von der Landkarte verschwinden, müssen zwei im Ausland überlebende Amerikaner erleben, wie sich ihre Privilegien in Nichts auflösen.
- Irvin S. Cobb: Fischmensch (Fishhead; 1913), S. 87-97: Sein Rückhalt in der Natur ist stark, wie zwei mordlüsterne Hinterwäldler erfahren, die sich an seiner Gegenwart stören.
- William Wood: Das Haus im Clay Canyon (One of the Dead; 1964), S. 97-130: Auf diesem Grundstück geht es seit Jahrhunderten um, woran sich auch in einem modernen Neubau nichts ändert.
- T. H. White: Der Troll (The Troll; 1935), S. 130-142: Gut getarnt will der Troll einen weiteren Reisenden fressen, ist sich seines Opfers aber ein wenig zu sicher.
Es kommt garantiert anders als erwartet
Er hat den Begriff „suspense“ nicht erfunden, aber sicherlich ein halbes Jahrhundert definiert: Alfred Hitchcock (1899-1980) lernte in seiner Karriere als Regisseur meisterhafter Thriller früh, dass man sein Publikum bannen kann, indem nur ihm eine Katastrophe offenbart wird, während die Darsteller auf der Leinwand ahnungslos bleiben. Voller Schrecken verfolgt man, wie das Verhängnis näher rückt, will die Verdammten warnen, kann es aber nicht. Daraus folgt eine Spannung, die freilich keineswegs in der angekündigten Katastrophe enden darf - ein Fehler, den Hitchcock nur einmal (1936 in „Sabotage“) beging -, sondern auf möglichst unerwartete Weise verhindert werden muss.
Hitchcock genoss den Erfolg, und er war einem zusätzlichen Verdienst nie abgeneigt. Vor allem seine überaus erfolgreiche TV-Serie „Alfred Hitchcock Presents“ (1955-1965) machte ihn populärer denn je, was merkantil genutzt werden sollte. Also gab Hitchcock scheinbar eine Reihe von Storysammlungen heraus, deren Autoren ganz in seinem Sinn für „suspense“ sorgten. Tatsächlich hatte Hitchcock mit diesen Büchern nichts zu tun. Selbst die angeblich von ihm verfassten, sarkastischen Vorwörter stammten von Ghostwritern; für „Stories That Scared Even Me“ sprang wohl wie so oft Robert Arthur (1909-1969) ein, der übrigens 1964 die in Deutschland noch heute laufende Jugendbuch-Serie „Alfred Hitchcock and The Three Investigators“ (dt. „Die drei ???“) schuf und schrieb. Auch das in der deutschen Fassung fehlende Vorwort („Ahem! If I May Have a Moment“) dürfte aus seiner Feder geflossen sein.
Viele Jahrzehnte und noch lange nach Hitchcocks Tod erschienen unzählige dieser unter seinem Namen veröffentlichten Kollektionen. Viele fanden ihren Weg auch nach Deutschland, wo Hitchcock ebenfalls berühmt war und als Garant hintergründigen Schreckens galt. „Stories That Scared Even Me“ erschien erstmals 1967 in den USA; ein mehr als 450-seitiger Band, der hierzulande ‚ausgebeint‘ wurde, weil in dieser Zeit seitennormierter Taschenbücher diese im Heyne-Verlag und hier in der Reihe „Heyne-Krimi“ höchstens 160 Seiten zählen durften.
Wahn und Jenseits: ein tödliches Duo
Als Regisseur und Produzent hat Alfred Hitchcock sorgfältig darauf geachtet, nie das Jenseits als direkte Quelle des Schreckens einzusetzen. In seinen Filmen spukte es nicht. Der Schrecken ging immer vom Menschen aus und wurzelte in seinem Hirn. In einer Krise bahnt er sich wahnhaft seinen Weg nach außen und beherrscht dann Menschen, die bisher ein völlig ‚normales‘, unauffälliges Leben führten, nun aber vor keinem Tabu zurückschrecken, wie Donald E. Westlake (1933-2008) exemplarisch im Rahmen einer grotesken, aber spannenden Story ganz im Sinne Hitchcocks beweist.
Mit einer Variante, die dem Meister ebenfalls gerecht wird, kann William Anthony Sambrot (1920-2007) dienen: Hitchcock ließ gern durchschnittliche Menschen in undurchsichtige, sie überfordernde Situationen und vor allem unter Verdacht geraten. Solche Pechvögel wrang er durch eine Maschine, die sie unbarmherzig und ungeachtet ihrer Unschuld ‚verarbeitete‘ und ihr Leben zu zerstören drohte. (Der krude deutsche Titel soll übrigens an das den ‚gebildeten‘ Lesern sicherlich bekannte, mehrfach verfilmte Schauspiel „Death of a Salesman“/„Tod eines Handlungsreisenden“ von Arthur Miller erinnern.)
Robert Somerlott (1928-2001) erzählt die Geschichte einer gnadenlosen Rache, deren geschickte Einfädelung sich erst im Finale erschließt. Heute hat die Überraschung den Großteil ihrer Wirkung verloren, da diese Auflösung ein wenig zu oft verwendet wurde. Dies gilt auch für jene Geistergeschichte, die uns William Parker Wood, Jr. (1931-?) präsentiert. Der Tenor ist düster und der Horror ebenso dezent wie wirkungsvoll. Dennoch wissen wir auch hier recht früh, worauf dieses Drama hinauslaufen wird. Nugent Barker (1888-1955) zieht sein an sich stimmungsvolles Garn zu sehr in die Länge und täuscht eine finale Überraschung vor, die sich nicht in der erwarteten Wucht einstellen will.
Der diskrete Verlust der Menschlichkeit
Fritz Leiber (1910-1992) fasziniert mit einer noch heute drastischen, wirkungsvoll entwickelten Story. Er setzt den Irrsinn als politisch und gesellschaftlich akzeptierte Konstante ein und entwirft das Bild einer Gemeinschaft, die den Tod im Verkehr als normalen und sogar notwendigen Aspekt des Alltagslebens bzw. Ventil für gravierende und unlösbare Probleme duldet.
Ebenso ruhig wie erbarmungslos rechnet Thomas M. Disch (1940-2008) mit der US-amerikanischen Überlegenheit ab. Sie wurde (und wird) gedankenlos in eine Welt getragen, die umgehend und unerbittlich die Gefolgschaft verweigert, wenn sich das Fundament angemaßter, für selbstverständlich gehaltener, mehr oder weniger gewaltsam gewahrter Vorrechte in Nichts auflöst.
Irvin Shrewsbury Cobb (1876-1944) beeindruckt durch ein frühes, aber deutliches Veto gegen Vorurteile. „Fischmensch“ hat nie jemand etwas getan, was ihn in ein typisches, also unschuldiges Opfer à la Hitchcock verwandelt. Die pure Bosheit missgünstiger Mitmenschen setzt eine ‚natürliche‘ Vergeltung in Gang, die als gerecht empfunden wird. Das Böse scheitert auch unter Terence Hanbury Whites (1906-1964) Feder an seiner nur scheinbaren Überlegenheit: Man darf sich auf beiden Seiten von Gesetz und Moral nie sicher fühlen!
Fazit:
Neun Storys sollen bzw. wollen den „Suspense“ à la Alfred Hitchcock beschwören, wobei entsprechende Kräfte auch aus dem Jenseits wirken können: Der „Hitchcock“-Faktor ist eher behauptet und wird nur selten thematisiert, was aber den Unterhaltungswert dieser Sammlung nicht beeinträchtigt.
Alfred Hitchcock, Heyne
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