November

  • Heyne
  • Erschienen: November 2023
  • 2
November
November
Wertung wird geladen
Michael Drewniok
100°1001

Phantastik-Couch Rezension vonJan 2024

Der höllische Preis des schönen Lebens

Lock Haven, eine Kleinstadt im US-Staat Washington, hütet ein großes Geheimnis: Sechs Familien, die entlang der Bird Street wohnen, sind bemerkenswerte Glückskinder. Die Eltern können beruflich oder künstlerisch erstaunliche Erfolge verbuchen, und ihre Kinder treten früh in diese Fußstapfen. Allerdings gibt es einen Haken. Die Gunst des Schicksals ist kein Zufall, sondern wurde ‚gekauft‘. Der Preis ist hoch und buchstäblich unheimlich. Elf Monate des Jahres können sich die Bewohner der Bird Street in ihrem Glück aalen. Im November ist Zahltag: Der „Buchhalter“ erscheint und fordert das ihm vertraglich zustehende (Menschen-) Opfer.

Das unheimliche Wesen mag der/ein Teufel sein, doch die Gier der Menschen in Lock Haven garantiert ihm seit mehr als einem Jahrhundert, was er fordert. Im November führen die Günstlinge des „Buchhalters“ ein Opfer in den Wald jenseits der Bird Street und töten es. Früher geschah dies durch blanken Mord, aber gegenwärtig handelt man ‚human‘ und wählt todkranke oder am Leben verzweifelnde Kandidaten aus.

Zwar könnte man den Vertrag aufkündigen, doch dann wäre es vorbei mit dem Glück. Einige Bewohner mussten dies drastisch feststellen; meist starben sie rasch. Doch auch diejenigen, die sich an die Vereinbarung halten, werden geprüft: Sobald der November anbricht, kommt das Pech addiert über sie, bis das Opfer gebracht wurde. Zudem sterben die so Getöteten zwar, aber sie verwandeln sich in bösartige Geister, die im Wald hinter der Bird Street lauern. Als in diesem Jahr zu lange kein Opfer gefunden wird, kommen sie heraus und mit wachsender Wucht über die ‚Glückskinder‘ ...

Die verbotene Abkürzung

Das Leben ist hart; daran hat sich nichts geändert, obwohl der Mensch nicht mehr in Höhlen haust und mit der Keule hungrige Wölfe abwehren muss. Weiterhin empfindet man den Alltag als Kampf, dessen man oft müde ist. Dann stellt man sich gern vor, wie es wäre, wenn man die Tücken unter und hinter sich lassen könnte.

An dieser Stelle kommt die Religion ins Spiel, wobei die Konfession kaum eine Rolle spielt: Stets wird der Mensch ermahnt, dass die Welt ein Jammertal ist, das gefälligst zwischen Geburt und Tod zu durchqueren = zu durchleiden ist. Schon der Gedanke an eine Art Auswegkurs, der die üblichen Klippen meidet und für ein ruhiges, durchweg angenehmes Leben sorgt, gilt als Sünde. Wer solche Alternativen anbietet, ist daher „böse“ und hat keineswegs das menschliche Wohl im Sinn, sondern ist scharf auf die Seele, die nach dem Tod fortexistiert. Wer im Leben geschummelt hat, wird dann zur Rechenschaft gezogen und landet auf ewig dort, wo sich derjenige die Klauen reibt, der das schöne, stressfreie Leben ermöglicht hat.

Stets gilt die Wahl zwischen Alltag und Lotterleben als Prüfstein. Mensch und Versucher schließen einen Vertrag, der quasi notariellen Vorgaben folgt und Bedingungen auflistet. Typisch für einen mit dem Teufel geschlossenen Pakt ist die unbedingte Einhaltungspflicht. Schwierig kann dies auch deshalb werden, weil der Teufel stets betrügt: Womöglich stellt sich nach der Unterzeichnung heraus, dass die eingegangene Verpflichtung die gewährte Gunst kompensiert.

Verlockung und Schwäche

In Literatur und Kunst wird der „faustische“ Pakt mit dem Bösen seit jeher oft und detailreich beschrieben. Vor allem die christliche Kirche spart nicht mit warnenden (und drohenden) Worten, weshalb die Bewohner der Bird Street nicht behaupten können, blind in die Fänge des „Buchhalters’ geraten zu sein. Zudem stellt sie dieser in jedem Jahr erneut vor die Wahl: Sie können den Vertrag kündigen.

Dass der „Buchhalter“ sich darüber keine Sorgen machen muss, liegt in der Natur des Menschen begründet. Thomas Olde Heuvelt teilt diese Ansicht und spielt die daraus resultierenden Konsequenzen ausführlich durch, was sich u. a. im Umfang des hier vorgestellten Romans widerspiegelt. Heuvelt ist ehrgeizig: Ihn beschäftigt die (Doppel-) Frage, ob und wie weit man moralisch gehen darf, um dem Schicksal ein Schnippchen zu schlagen.

Der Horrorroman eignet sich ausgezeichnet für eine solche Geschichte. Zwar lässt Heuvelt offen, ob der „Buchhalter“ zwischen seinen November-Auftritten in der Hölle schmort; der theologische Aspekt interessiert den Verfasser nur am Rande. Er sieht die Verantwortung für ihr Handeln allein bei den Menschen der Bird Street. Die machen sich um ihre Seelen keine Sorgen. Es ist das Gewissen, das sie plagt; jener Teil des Menschen, der sich rührt, wenn man jenseits sozialer Regeln agiert.

Wie (viel) willst du zahlen?

Heuvelt stellt uns die aktuellen Glückskinder vor, wobei er die Familie Lewis da Silva in den Mittelpunkt stellt. Ralph und Luana und ihre Kinder Kaila und Django symbolisieren die ‚typische‘ US-amerikanische Familie aus dem (oberen) Mittelstand. Diese Konstellation sorgt aktuell für einen Wertewandel: Während die Eltern trotz ihrer Ängste und Bedenken am Pakt und damit an ihrem Glück festhalten, fällt das Urteil der pubertierenden Kaila härter aus: Sie erkennt die Verdrängung und den Selbstbetrug hinter dem System und lehnt es rigoros ab. Dies ist einer der Auslöser für die (Doppel-) Krise, die über die Bewohner der Bird Street kommt.

„November“ gliedert sich in zwei Hauptstränge. Teil 1 spielt in einem Jahr elementarer Not, deren Ursache die unerwartete Schwierigkeit ist, rechtzeitig ein Opfer zu finden. Daraufhin kommt nicht nur das Pech über die Bird Street, sondern auch jener Spuk, der die ‚Kollateralschäden‘ des Paktes markiert. Dass sie die so liebevoll auf ihr Ende vorbereiteten Opfer zu einem Dasein als gequälte Phantome verdammen, bringt die Fragwürdigkeit ihres Handelns auf den Punkt und leitet Teil 2 ein, in dem die Befürworter des Paktes die Kontrolle verlieren, Kaila sich aktiv gegen das System wendet und die Ereignisse eine spektakuläre Wendung nehmen.

Über die gesamte Distanz hält Heuvelt den roten Faden straff. Angesichts der Seitenstärke ist dies eine bemerkenswerte Leistung. Längen und Abschweifungen, die den Vorgängerroman „Echo“ beeinträchtigten, entfallen. Das Geschehen mag gemächlich einsetzen, aber Heuvelt sorgt geschickt dafür, dass schon früh Momente der Irritation auftauchen. Sie kündigen an, dass hinter den geordneten Kulissen etwas Unheimliches und Verbotenes vorgeht.

Das Grauen mit und ohne Monster

Heuvelt spart nicht mit Gruseleffekten, setzt sie aber geschickt und ökonomisch ein, statt den Schrecken blutig zu übersteigern. Er konterkariert den Spuk mit dem Grauen, das in der Selbstverständlichkeit liegt, mit dem sich die Glückskinder der Bird Street ihr Tun rechtfertigen. Sie hatten genug Zeit, ein dichtes Netz aus ‚logischen‘ Gründen zu spinnen. Darin droht sich zunächst auch Kaila zu verfangen. Wieder einmal bestätigt sich, dass der Mensch keine Geister benötigt, um Schrecken zu säen.

Die Spannung steigt, das Tempo lässt nicht nach. Heuvelt schlägt unerwartete Handlungs-Haken und weiß dabei die Bedrohlichkeit der Situation permanent zu steigern. Ein weiterer Pluspunkt ist die Ambivalenz der Figurenzeichnung: Dass sie einen Teufelspakt geschlossen haben, verwandelt die Menschen der Bird Street nicht in Ungeheuer. Ralph und Luana denken an das Wohl ihrer Kinder, die es ohne den „Buchhalter“ gar nicht gäbe. Nur deshalb beteiligen sie sich an dem bösen Spiel, obwohl es sie gleichzeitig zerreißt - scheinbar, denn Heuvelt macht deutlich, dass auch diese Sorge als Ausrede instrumentalisiert wird: Kaila und Django würden das Risiko einer Aufkündigung des Paktes riskieren.

Es lässt sich nicht vermeiden, dass Thomas Olde Heuvelt nach „November“ mit Stephen King verglichen wird. Zu auffällig sind die Parallelen: die Gruppe unter Druck, der Gesetze und Regeln aufweicht und entweder das Böse oder das Gute im Menschen zutage treten lässt. Dieser Seiltanz gelingt, ohne dass der Jüngere den Älteren imitiert. Der Niederländer Heuvelt beschränkt die US-Kulisse auf die handlungsrelevanten Aspekte; sie wirkt als Schauplatz plausibel. Insgesamt ist ihm mit „November“ ein großartiger (Horror-) Roman gelungen, der auf einer zusätzlichen Ebene zum Nachdenken anregt, ohne dabei ins Predigen zu verfallen.

Fazit:

Flüssig erzählter, spannender und effektstarker, dabei auf den Plot konzentrierter Horrorroman, der Schwarz-Weiß-Kontraste vermeidet und die Problematik einer moralischen Entscheidung auf den Punkt bringt: ausgezeichneter Lesestoff!

November

Thomas Olde Heuvelt, Heyne

November

Ähnliche Bücher:

Deine Meinung zu »November«

Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!

Letzte Kommentare:
Loading
Loading
Letzte Kommentare:
Loading
Loading

Sci-Fi & Mystery
(MUSIC.FOR.BOOKS)

Du hast das Buch. Wir haben den Soundtrack. Jetzt kannst Du beim Lesen noch mehr eintauchen in die Geschichte. Thematisch abgestimmte Kompositionen bieten Dir die passende Klangkulisse für noch mehr Atmosphäre auf jeder Seite.

Sci-Fi & Mystery