Der Spuk in Luftbahnwagen 015 (Meister der Dschinn)
- Cross Cult
- Erschienen: Februar 2024
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Blaue Flecken für Kairos Gespensterjungs
Vor vier Jahrzehnten öffnete der Mystiker al-Dschahiz ein Portal zwischen dieser Welt und einer Sphäre, in der mystische Wesen existieren. Viele von ihnen leben seither unter den Menschen. Dass sie über buchstäblich magische Fähigkeiten verfügen, hat die Geschichte entscheidend verändert, sorgt aber auch für Zwischenfälle, denn nicht alle Kreaturen aus dem „Qaf“ hegen freundliche Absichten.
Im Jahre 1912 gehört die Magie auch in der ägyptischen Hauptstadt Kairo zum Lebensalltag. Hier gibt es sogar ein „Ministerium für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen“, dessen Angehörige jene Kreaturen in Zaum zu halten versuchen, die sich nicht in das Miteinander einfügen wollen. Dieses Buch berichtet über zwei typische Fälle:
- Ein toter Dschinn in Kairo (A Dead Djinn in Kairo; 2016), S. 5-61: Jung-Agentin Fatma el-Sha’arawi ermittelt in einer heiklen Angelegenheit. Ein eigentlich/nahezu unsterblicher Dschinn wurde grausam ermordet. Die Untersuchung führt zu den ebenso mysteriösen wie lebensgefährlichen „Engeln“, die sich nicht wie überliefert friedlich oder freundlich verhalten.
- Der Spuk in Luftbahnwagen 015 (The Haunting of Tram Car 015; 2019), S. 63-188: Das Agenten-Team Hamed Nasr und Onsi Youssef wird vom „Büro für Bahnsicherheit und -wartung“ in den Ramses-Bahnhof gerufen. In einem der zahlreichen Wagen, die über ein ausgeklügeltes Kabelsystem Passagiere und Fracht hoch über den überfüllten Straßen der Stadt transportieren, hat sich offenbar ein Geist eingenistet. Das seltsame Wesen reagiert auf Kontaktversuche aggressiv. Die Agenten sollen es freundlich oder notfalls bestimmt aus Wagen 015 locken.
Erste Versuche scheitern; es gibt blaue Flecken und verletzte Gefühle. Nasr und Youssef sind auf ein Wesen gestoßen, das in Ägypten bisher unbekannt war. Niemand weiß, wie man einen „Ai“ ausschalten kann. Die Agenten müssen improvisieren, was sie erst recht in Lebensgefahr bringt ...
Eine neue, faszinierende Vergangenheit
Fantasy, Horror, Steampunk-SF: Von allem findet sich mehr als ein Hauch in diesen beiden Geschichten, welche von einer Kulisse profitieren, die frischen Wind in eine allzu oft generische Phantastik bringt. Zwar wurde und wird die ‚orientalische‘ Welt gern als Schauplatz abenteuerlicher Ereignisse genutzt, doch die Autoren folgen allzu gern jenen ausgefahrenen Gleisen, die durch einen als Staffage benutzen oder eher missbrauchen Orient führen. Stereotypen und Klischees aus „1001-Nacht“-Surrogaten sorgen für ein Ambiente, das die lokalen Kulturen ausschlachtet und dabei eine Haltung einnimmt, die an die Ära der Kreuzzüge erinnert.
Die islamische Invasion des Mittelalters hat ihre Spuren in der Sicht auf eine Kultur hinterlassen. Ungeachtet zahlreicher naturwissenschaftlicher, technischer und philosophischer Errungenschaften, die deutlich früher als in den Abendländern datieren, dominiert weiterhin das Bild einer Exotik, die von Furcht gezeichnet ist. Aktuell hauchen die Islamisten - die sich auf den Islam berufen, ihn aber grausam karikieren und fanatisch missbrauchen - dem neues ‚Leben‘ ein.
„Phenderson Djèlí Clark“ (geboren 1971 als Dexter Gabriel und hauptberuflich als Historiker an der University of Connecticut beschäftigt) wirft solchen Ballast über Bord. Er postuliert eine Welt, in der sich das ägyptische Kairo zum Nabel einer modernen und eigenständigen Gegenwart entwickeln konnte; dies nicht nur, weil man hier die Kräfte des „Qaf“ früh akzeptierte, sondern auch, weil mit ihrer Hilfe die Gier europäischer Imperialisten abgewehrt werden konnte. Dieses Ägypten ist keine britische Kolonie, sondern eine unabhängige Großmacht.
Verlockende Alternativwelt
Mindestens ebenso wichtig ist eine Freiheit, die eben nicht von Fanatikern mit Füßen getreten wird. Clarks Kairo ist eine Stadt, in der es vor Leben summt. Nicht ein als Maß aller Dinge zweckentfremdeter Glaube, sondern echte Ungebundenheit bestimmt den Alltag. Die Folge ist ein Schmelztiegel unzähliger Kulturen und Religionen, die (mehr oder weniger) friedlich nebeneinander existieren. Das Ausland ist nicht als Obrigkeit mit Knute anwesend, sondern muss Ägypten auf Augenhöhe begegnen; eine durchaus bittere Lektion, wie Clark in einem seiner zahlreichen Rückblicke in die Qaf-bereicherte Vergangenheit ausführt.
„Ein toter Dschinn in Kairo“ war 2016 ein Versuchsballon des Verfassers. Auf der Website „tor.com“ des auf Phantastik spezialisierten Verlags „Tor Books“ stellte er erstmals seine Interpretation einer von Magie nicht bestimmten, aber geprägten Welt sowie die Hauptfigur Fatma el-Sha’arawi vor; eine junge, freidenkerische Frau, die in diesem eben nicht frauenfeindlichen Islam Karriere machen und ihrem Individualismus frönen kann. (Später outet sich Fatma außerdem als lesbisch.)
Die Resonanz war beträchtlich, sodass Clark 2019 „Der Spuk in Luftbahnwagen 015“ folgen ließ; keine Kurzgeschichte, sondern eine Novelle, was dem Verfasser die Möglichkeit gab, wesentlich tiefer in die von ihm geschaffene Welt einzutauchen. Agentin Fatma beließ es dieses Mal bei einem Kurzauftritt, aber sie wurde vom ungleichen Team Nasr & Youssef würdig vertreten.
Dem Pathos keine Chance
„Der Spuk in Luftbahnwagen 015“ verdeutlicht, dass Clark packende Geschichten erzählen will (und kann), aber der fantasy-üblichen Theatralik eine Absage erteilt. Der Erzählton ist leicht, was weder auf Kosten der Spannung geht noch in plumper Kalauer-Komik verendet. Dieses Kairo mag buchstäblich magisch sein, ist aber in erster Linie eine Stadt, in der Menschen, Dschinn u. a. Kreaturen des Qaf gern leben. Hohle Rhetorik und das Schwelgen in archaischem Pomp entfallen, wenn Clark Kairo als Ort architektonischer und technischer Wunder beschreibt. Diese sind in ein Stadtleben integriert, dessen Attraktivität sich nachvollziehen lässt.
Clarks nicht von gutmenschlicher Naivität angekränkelte, sondern optimistische Weltsicht führt dazu, dass der finale Kampf mit dem Luftbahnwagen-Spuk wogt, während in Kairo über die Gleichberechtigung bzw. das Wahlrecht der Frauen abgestimmt wird. Es wirkt keineswegs unrealistisch, dass schließlich nicht nur der Ai gebannt wird, sondern auch die Frauen obsiegen.
Mit den beiden in diesem schmalen, aber lesenswerten Bändchen gesammelten Erzählungen bereitete Clark das Feld für den Roman „A Master of Dschinn“ vor (der als „Meister der Dschinn“ bereits in Deutschland veröffentlicht wurde). Die „Science Fiction and Fantasy Writers of America“, die seit 1966 alljährlich den rennomierten „Nebula Award“ verleihen, zeichneten ihn als besten Roman des Jahres 2021 aus.
Fazit:
Vor seinem epischen Roman „Meister der Dschinn“ tummelte sich Autor P. Djèlí Clark kurz bzw. novellenlang in der von ihm geschaffenen Parallelwelt. Beide Erzählungen spielen harmonisch in einer bereits vorzüglich ausgearbeiteten Kulisse und versöhnen inhaltlich wie formal vollauf mit der Kürze dieses vergleichsweise kostspieligen Büchleins.
P. Djèlí Clark, Cross Cult
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