Reise ins Zwielicht
- Goldmann
- Erschienen: Januar 1973
- 0
Wissenschaft, die Schlimmes schafft
Eher zufällig gelingt Clayton Solan im Jahre 2123 ein wissenschaftlicher Durchbruch: Er entdeckt eine Möglichkeit, Informationen direkt ins menschliche Gehirn einzuspeisen. Auf diese Weise könnten beispielsweise Lehrprogramme buchstäblich anschaulich bzw. greifbar gestaltet werden.
Solans Vorgesetzte sind des Lobes voll, und die normalerweise knickrige Regierung erhöht das Institutsbudget. Es dauert eine Weile, bis Solan zu begreifen beginnt, dass dahinter keineswegs der hehre Wunsch nach Wissen weckt. Anders als der recht naive Forscher haben ehrgeizige Oppositionspolitiker das Gesamtpotenzial der Erfindung erkannt: Da sich nicht nur Informationen, sondern auch Befehle übermitteln lassen, ist hier ein Instrument entstanden, mit Bürger in Marionetten verwandelt werden können.
Zudem deckt die ohne Rücksicht auf Zwischenfälle vorangetriebene Arbeit ein weiteres Problem auf: Kommt es beim ‚Überspielen‘ von Informationen zu Fehlern, baut sich eine Ablaufschlaufe auf, die sich endlos wiederholt, ohne dass sich das Opfer wecken lässt; es stirbt im Koma.
Als Solan sicher ist, dass Regierungsgegner sein Werk missbrauchen werden, um sich an die Macht zu putschen, kündigt er, um privat nach einer Möglichkeit zu suchen, seinem Gerät die Fähigkeit zur „Gehirnwäsche“ zu nehmen. Er findet einen Weg, doch der zwingt ihn persönlich in jenes Zwischenreich, in dem seine Gegner bereits umgesetzt haben, was sie in der realen Welt erst planen. Ohne Wissen um seine Mission versucht sich Solan verzweifelt zu erinnern, wo er ist und was er tun wollte, während sich scheinbare Freunde und echte Feinde auf seine Fährte setzen …
Das wankelmütige Gehirn
Leslie Purnell Davies (1914-1988) ist ein interessanter, zu Unrecht in Vergessenheit geratener Autor. Dies liegt u. a. daran, dass über den Menschen Davies nur wenig bekannt ist, was angesichts eines Grundmotivs, das sich durch sein Gesamtwerk zieht, von Nachteil ist. Ein Verleger engagierte sogar einen Privatdetektiv, um mehr über Davies zu erfahren, doch die Suche endete an einem Grab.
Zum Rätsel Davies trägt bei, dass er als Verfasser erst spät - im Alter von 50 Jahren - als Schriftsteller aktiv wurde. Seine Laufbahn währte knapp zwei Jahrzehnte, in denen er sich als überaus fleißiger Autor erwies, dessen Storys unter zahlreichen Pseudonymen erschienen. Wenige Jahre vor seinem Tod verstummte Davies so plötzlich, wie er die Phantastik-Szene betreten hatte.
Sein Werk ist nicht nur, aber vor allem deshalb interessant, weil es dem seines ungleich berühmteren Zeitgenossen Philip K. Dick (1928-1982) gleicht. Davies ging es vor allem um die Angreifbarkeit des menschlichen Hirns, das ein empfindlicher biochemischer ‚Mechanismus‘ ist. Es interpretiert die Realität, deren Reize ihm durch die Sinnesorgane vermittelt werden. Der Gedanke liegt nahe, dass man sich in diese ‚Übersetzung‘ einschalten kann. Die ‚echte‘ Realität wird auf diese Weise zu einer fremden Welt, was durch die mögliche Manipulation auf die Spitze getrieben werden kann: Was ist real, was Illusion?
Die Frühzeit der virtuellen Realität
Auch in „Reise ins Zwielicht“ spielt Davies diese Prämisse durch. Die deutschen Leser werden freilich in die Irre geführt: „Reise im 22. Jahrhundert: ohne Auto und Düsenklipper …“ lesen wir auf dem Cover - eine Ankündigung, die den Inhalt dieses Romans ähnlich Lügen straft wie der Klappentext. Es geht ganz sich nicht um zukünftige Mobilität. Tatsächlich bringt der Verfasser ein wesentlich gravierenderes Problem zur Sprache: Das Hirn lässt sich modifizieren, doch die daraus resultierenden Möglichkeiten lassen sich im Guten wie im Bösen nutzen.
Davies‘ „Pandekten“ stellen eine Vorwegnahme der „digitalen Realität“ dar, wie sie sich im echten 21. Jahrhundert mehr und mehr entfaltet: Die Möglichkeit, immer komplexer werdende Spiegelbilder des wahren Lebens in Daten umzusetzen, die anschließend in eine parallele, erlebbare ‚Wirklichkeit‘ verwandelt werden können, sorgt für eine Erweiterung der Existenz, die einerseits fasziniert, während andererseits die zum Teil erschreckenden Konsequenzen nicht erkannt, verdrängt oder sogar angestrebt werden.
Hier knüpft Davies an. Er bemerkt den Pferdefuß, den der - aus heutiger, zynischer Sicht reichlich naive Dr. Solan - lange nicht erkennt: Wenn die Realität ‚nachgebildet‘ werden kann, lässt sie sich auch nach Bedarf umformen! Dies ist erst recht möglich, werden die dafür erforderlichen Daten direkt ins Hirn projiziert: Dann lässt sich es lenken, wenn der „Input“ entsprechend vorformuliert wurde.
Seid gewarnt!
Selbstverständlich wirkt die von Davies geschilderte Technik heute umständlich und überholt: Man arbeitet mit Magnetbändern und modifizierten Lochkarten, beschreibt den „Pandekten“ ihr Reiseziel umständlich mit Worten, die dann in einen frühen Computercode übersetzt werden: Davies ist nicht klar, dass dieser Umweg zu umgehen ist, indem man den Code direkt einsetzt, um das gewünschte Ergebnis zu erreichen.
Ungeachtet dessen wird deutlich, wovor der Autor - s. o. - warnen will. Eine reaktionäre bzw. faschistoide Gruppe will die neue Technik in ihrem Sinn verwenden. Das Bild der daraus resultierenden Zukunft zeichnet Davies, indem er seine Hauptfigur Solan durch drei fiktive Zeitschleifen treibt. Stets in derselben Umgebung - einer englischen Kleinstadt - lässt er ihn eine noch unbeeinflusste Gegenwart durchleben, die von einer bereits antidemokratisch durchsetzten Zukunft abgelöst wird. Schließlich landet Solan in einer buchstäblich orwellschen Welt, in der die Schergen des Regimes die letzten noch nicht hirnmanipulierten ‚Bürger‘ jagen.
Die Spannung entwickelt sich aus dem eigentlich nutzlosen Bemühen, den ‚Trumpisten‘ dieser Zukunft einen Strich durch die Rechnung zu machen. Solan versucht den Geist zurück in die Flasche zu zwingen. Davies sorgt für dramatische Zwischenfälle. So liegt Solans Körper den Feinden ausgeliefert sowie allmählich sterbend im Labor, während sein Geist zunächst ohne Wissen um die selbst eingeleitete Mission durch das Zwielicht einer aus den Fugen geratenen Alternativwelt irrt und seine wenigen Verbündeten feststellen, dass auch die Gegenwart bereits vom sich bildenden Regime unterwandert ist. Dieser Wettlauf sorgt für spannende Ungewissheit: Wird Solan die Verschwörung aufdecken - und auf welche Weise könnte ihm dies gelingen? Auf dieser Ebene sowie aufgrund des Plots wirkt „Reise ins Zwielicht“ ungeachtet der von der Zeit überholten Science-Fiction-Effekte auch viele Jahrzehnte später erstaunlich - und beunruhigend - frisch.
Fazit:
Früher, ahnungsvoller Blick auf die Möglichkeiten der „virtual reality“, die sich ebenso wissenschaftlich nutzen wie machtpolitisch instrumentalisieren lässt: interessantes, auf den Plot konzentriertes Werk eines zu Unrecht vergessenen Autors.
Leslie P. Davies, Goldmann
Deine Meinung zu »Reise ins Zwielicht«
Wir freuen uns auf Deine Meinungen. Ein fairer und respektvoller Umgang sollte selbstverständlich sein. Bitte Spoiler zum Inhalt vermeiden oder zumindest als solche deutlich in Deinem Kommentar kennzeichnen. Vielen Dank!