Holly

  • Heyne
  • Erschienen: September 2023
  • 2
Holly
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Marcel Scharrenbroich
90°1001

Phantastik-Couch Rezension vonDez 2023

Miss Gibney im Fledermausland

Finders and Keepers

Gerade betrauert die Privatermittlerin Holly Gibney noch den Tod ihrer Mutter Charlotte, die störrischerweise der Covid-Pandemie zum Opfer fiel, da wird sie durch eine hartnäckige Anruferin aus ihrer Lethargie gerissen. Penelope Dahl wirkt verzweifelt. Aufgelöst berichtet sie Holly, dass ihre Tochter Bonnie Rae auf dem Nachhauseweg spurlos verschwand. Man fand lediglich ihr abgestelltes Fahrrad, auf dessen Sattel eine Notiz befestigt war: „Ich hab genug

Dass ihre Tochter einfach ausgebüxt sein oder sich womöglich sogar etwas angetan haben könnte, ist für Penny ausgeschlossen. Dafür war sie nicht der Typ. Eher aufgeschlossen und lebenslustig. Holly übernimmt den Fall. Die Fakten sind zwar spärlich, doch Pennys ausführliche Angaben liefern immerhin ein paar Anhaltspunkte, an denen sie ansetzen kann. Vielleicht tut etwas Ablenkung Holly sogar gut, immerhin beschäftigt sie nicht nur der plötzliche Verlust ihrer Mutter, zu der sie eh ein angespanntes Verhältnis hatte, sondern auch die Tatsache, dass sie Holly in wichtigen Dingen arglos ins Gesicht gelogen hatte. Etwas, um das sie sie sich aber später kümmern wird. Die Suche nach der vermissten Bonnie hat erstmal Vorrang.

Zeitgleich lernen wir das alte Professoren-Paar Emily und Rodney Harris kennen, welches nicht rein zufällig in der Gegend wohnt, in der Bonnie Rae Dahl verschwand. So schrullig die beiden mit ihren altersbedingten Wehwehchen auch erscheinen mögen, so faustdick haben sie es hinter den betagten Ohren. Mit einer ganz speziellen Masche locken sie arglose Helferinnen und Helfer in die Falle. Während Emily Harris sich im Rollstuhl als hilflos ausgibt, überredet ihr Gatte sorgsam ausgewählte Passanten zur Hilfe. Da er zu schwach ist, möge man ihm doch helfen, seine Frau über die Rampe in den Transporter zu schieben. Und schon schnappt die Falle zu!

Bonnie Rae ging dem vermeintlich harmlosen Pärchen nicht als Erste auf den Leim. Sie betreiben ihr grausames Spiel schon eine ganze Weile. Und was sich dahinter verbirgt, kann sich selbst Holly – mit all ihren monströsen Erfahrungen der jüngeren Vergangenheit - nur schwer vorstellen. Und je näher sie den cleveren Akademikern kommt, desto mehr bringt sie sich und die, die sie liebt, in höchste Gefahr…

Folge den Brotkrumen…

Stephen King hat sich mit „Holly“ vom Übernatürlichen entfernt und wirft seinen persönlichen Lieblingscharakter nun in eine klassische Ermittlergeschichte. Das ist überaus interessant, da Holly Gibney sowohl in „Der Outsider“ als auch in „Blutige Nachrichten“ mit waschechtem Horror konfrontiert wurde. Dass King nun - nach Hollys Debüt in der ebenfalls geerdeten „Mr. Mercedes“-Trilogie - erneut auf äußerst realen (wenn auch nicht weniger abstoßenden) Pfaden wandelt, lässt die beiden Seiten von Kings Erzählkunst nur noch mehr miteinander verschmelzen. Dabei lässt er uns als Leser nicht miträtseln, sondern stellt gleich zu Beginn klar, wem hier auf die Schliche gekommen werden soll. Das Wie, Wann und Wo steht also im Vordergrund. Also eher „Columbo“ anstatt reißerischem Pageturner, bei dem man am liebsten gleich auf die letzte Seite vorblättern möchte. Das tut der Spannung aber absolut keinen Abbruch, denn wir reden hier immerhin von Stephen King, dem seine Popularität schließlich nicht über Nacht in den Schoß gefallen ist. Der Bestseller-Autor schafft es einfach mit spielender Leichtigkeit, sein Publikum einzunehmen. Dafür reichen ihm wenige Seiten aus, sodass man sich der Story nur schwer wieder entziehen kann. So verhält es sich auch mit „Holly“. Verweise auf ihren bisherigen Werdegang gibt es immer wieder, sodass Kings Stammleser sich rasch heimisch und gut aufgehoben fühlen. Auch tauchen bereits bekannte Nebencharaktere wieder auf, nehmen sogar wichtige Rollen bei der spannenden Hatz ein. Der stetige Wechsel zwischen Vergangenheit und Gegenwart sorgt dafür, dass sich ein immer klareres Bild formt, während die Perspektivwechsel sowohl Protagonisten als auch Antagonisten stärker beleuchten. So wird aus „Holly“ ein mehr als routinierter Psychothriller, der mit unappetitlichen Spitzen nicht geizt, jedoch stets seine Charaktere fest im Blick behält. Und natürlich darf auch der King-typische Blick aufs Weltgeschehen nicht fehlen…

Covid-Connection

Ist Corona weitestgehend aus dem Alltag verschwunden, was wohl eher der Tatsache geschuldet ist, das nationale und internationale Krisenherde gleich mehrere Fässer gleichzeitig zum Überlaufen bringen, ist das Virus im Buch nicht nur äußerst aktiv, sondern auch stets präsent. Die Frage wann und wo hier jemand an einer räudigen Fledermaus gelutscht hat, stellt sich zwar nicht, dafür wurden langwierige Begrüßungsfloskeln durch flotte Nennung des injizierten Impfstoffs abgelöst. Tja… dann muss ich wohl auch: Marcel, dreimal BioNTech, bislang verschont geblieben, dreimal auf Holz geklopft. Danke. So, nachdem wir das jetzt abgefrühstückt haben, kommen wir darauf zurück, wie die Pandemie Herrn King beeinflusst haben muss. Und - oh Junge! - die muss ihn schon ORDENTLICH mitgenommen haben, wie er sich während der gesamten Story in der Thematik suhlt. Im Nachwort geht der Meister persönlich noch mal darauf ein, lässt aber auch in der Geschichte keine Möglichkeit aus, um sein Unbehagen gegenüber ungeimpften Personen zum Besten zu geben. Gleich mehrfach macht er seinen Standpunkt klar, lässt aber auch Ängste und Sorgen durchschimmern. Keine Seltenheit, hat King in seinen letzten Werken auch schon überschäumend seine Abneigung gegen den schlecht geföhnten Ex-Präsidenten in Orang-Utan-Orange einfließen lassen. Darauf braucht man auch in „Holly“ nicht zu verzichten. Um das aktuelle Zeitgeschehen wiederzugeben, nimmt King auch Bezug auf die „Black Lives Matter“-Bewegung, die nach dem gewaltsamen Tod von George Floyd weltweit den Rassismus anprangerte, der nicht nur in den Staaten allgegenwärtig und in bedrohlichen Ausmaßen spürbar ist. Kings Pendant hört allerdings auf den Namen Maleek Dutton, nach dessen Tod durch Ordnungshüter Chaos auf den Straßen herrschte. Gegen die Covid-Präsenz sind dies jedoch nur Fußnoten in „Holly“. Warum ich das extra erwähne? Weil diejenigen, die Schutzmasken als „Maulkörbe“ bezeichnen, Floskeln wie „Lügenpresse“ oder „mal selber denken“ fest in ihrem alltäglichen Sprachschatz verankert haben und „Spazierengehen“ als clevere Protestart ansehen, mit Stephen Kings aktuellster Arbeit wohl nicht sehr glücklich werden dürften. Bitte, gern geschehen.

Fazit:

Ach, Holly… man muss sie einfach mögen. Miss Gibney ist mit all ihren Marotten nicht nur dem Autor selbst ans Herz gewachsen, sondern auch seiner Leserschaft. In dieser spannenden Geschichte setzt sich ihre spürbare Entwicklung fort, wobei sie gleich mehrfach über ihren eigenen Schatten springen muss. Ein reißerisches Spiel gegen die Zeit, bei dem so manches Tabu ausgelotet wird.

Holly

Stephen King, Heyne

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