Laß die Blumen stehn
- Goldmann
- Erschienen: August 1972
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Segelschiff-Flucht vor der Apokalypse
Weit vor der Westküste der USA sind Wissenschaftler mit Bohrungen beschäftigt, die unter dem Meeresspiegel in bisher nie erreichte Zonen des Erdinneren vorstoßen sollen. Dabei stößt man auf eine Verwerfung, die einen Teil des Mantels in die Kruste gedrückt hat - ein Glücksfall, denn so tief hinab wäre man sonst nie gekommen!
Doch Freude verwandelt sich in Schrecken, denn man hat eine Gasblase angebohrt. Sie entlässt gewaltige Stickstoffmengen in die Atmosphäre, die den Sauerstoffgehalt der Luft drastisch herabsetzt. Das zwar ungiftige, aber nicht atemtaugliche Gas bildet eine Wolke, die sich in Richtung Nordamerika bewegt. Als sie die USA erreicht, beginnt ein großes Sterben, dem eine landesweite Panik folgt, zumal die Bruchstelle sich vergrößert und das austretende Gas zusätzlich für Tiefseebeben und Flutwellen sorgt.
Geologe Mitch Grant kann dem Zusammenbruch zusammen mit der Ärztin Bette an Bord des kleinen Segelboots „Mayfly“ entkommen. Eigner Bill Visick und seine Begleiterin Karen vervollständigen das Quartett, das zunächst die Westküste hinabsegelt, aber dann beschließt, das nordamerikanische Chaos hinter sich zu lassen und über den Ozean so weit in Richtung Australien zu segeln, wie es möglich ist.
Das Verderben folgt der „Mayfly“. Die Gaswolke tötet Millionen Nordamerikaner und bedroht bald die gesamte Nordhalbkugel. Monumentale Erdstöße lassen Kalifornien im Meer versinken; der Untergang schickt eine monströse Flutwelle über die Weltmeere, die sich mit atemberaubender Geschwindigkeit der „Mayfly“ nähert, wo man verzweifelt versucht einen Ort zu finden, der Schutz vor der heranrasenden Wasserwand bietet …
Kein Grund für schlechtes Benehmen!
Es kommt der Zeitpunkt, an dem schlechte Nachrichten selbst von denen zur Kenntnis genommen werden (müssen), die sich bisher dagegen sträubten. Seit den 1960er Jahren schlug die Glocke immer lauten denen, die einfach ignorieren wollten, dass Überbevölkerung, Umweltzerstörung und die Ungerechtigkeit der Ressourcenverteilung das Ende vom Traum eines ewigen Fortschritts ankündigten - und zwar für alle Menschen, d. h. nicht nur für jene, deren Elend man als satter Bürger der privilegierten Staaten ausblenden konnte.
Dass es sogar die USA erwischen könnte, war ein Gedanke, der dort für echten Horror sorgen konnte! Eigentlich fürchtete man einen Atomkrieg mit der Sowjetunion, der die Erde in eine unwirtliche, radioaktive Wüste verwandelt hätte. Doch das Spektrum drohender Gefahren war breiter. D. F. Jones ging nicht in die Zukunft, sondern blieb in der Gegenwart (der frühen 1970er Jahre).
Obwohl „Lass die Blumen stehen“ überwiegend in den USA spielt, war Dennis Feltham Jones (1918-1981) ein in London geborener Engländer. Als Autor schuf er hier einen Roman in der Tradition jener „gemütlichen Apokalypsen“, die eine urbritische Nische der Science Fiction darstellt: Jawohl, die Welt geht unter, aber das ist kein Grund, den Mut oder gar die Form zu verlieren! Ein wahrer Mann - dem sich die Frau zeitgenössisch üblich unterordnet - beobachtet und berichtet, während er ums Überleben kämpft und dabei tut, was getan werden muss.
Nussschale treibt durch eine Welt im Aufruhr
Mitch Grant, der als Ich-Erzähler über eine globale Katastrophe berichtet, ist ein US-Bürger der vorbildlichen Art: Er ringt nicht nur mit dem Tod, sondern auch mit seinem Gewissen, das ihn gern und jederzeit (sowie zum Erstaunen heutiger Leser) stärker zwiebelt als das scheinbare Ende der Welt. Also muss sich Grant immer wieder von seinen Gefährten beruhigen lassen, weil er aus den Vereinigten Staaten flüchtet, statt sich mannhaft gegen eine Gefahr zu stemmen, die ihn ehrenhaft ins Grab bringen würde; ein Impuls, dem er letztlich doch nicht widersteht, weshalb er sich über den halben Globus in die USA zurückbringen lässt, wo er beim Wiederaufbau Buße tut für sein moralisches ‚Versagen‘.
Die Stimme der Vernunft überträgt Jones einem Briten, der sich sachlich dem Überleben als Herausforderung stellt. Bill Visick führt ein Segelboot. Autor Jones, der auf seine Marine-Erfahrungen zurückgreift, kennt sich an Bord offenkundig gut aus, sodass jene Szenen, die auf hoher See spielen, sachkundig beobachtet und beschrieben sind. Seine Beschreibungen tobender Flutwellen sind ebenso präzise wie eindrucksvoll!
Der Verfasser schildert die Apokalypse nur selten unmittelbar. Er wählt den Umweg über Erlebnisberichte und aus der Ferne aufgefangene Funkberichte, die von einer Katastrophenkette künden, die den Erdball zwar nicht zerstören, aber die Menschheit nachdrücklich heimsuchen. Das Entsetzen teilt sich den Lesern über die Protagonisten mit. Sie wurden uns ausführlich vorgestellt. Wir ‚kennen‘ Mitch, Bill, Bette und Karen, bangen um sie und mit ihnen. Unabhängig davon erhöht Jones die Spannung, denn die Abwesenheit eines „allwissenden“ Erzählers erhöht die Unsicherheit: Was geschieht tatsächlich?
Adam und Adam & Eva und Eva
D. F. Jones ist kein Visionär. Sein Garn ist manchmal reine „Science“, dann wieder nur „Fiction“. Was „Sarah“ - so wird die Anomalie genannt, aus der sich Stickstoff über die Erde ergießt - angeht, hat der Autor sichtlich intensiv recherchiert: Er konfrontiert uns mit zahlreichen ‚Fiktiv-Fakten‘, die auf der Basis um 1970 aktueller Kenntnisse basieren. Jones extrapoliert und malt die Folgen einerseits dramatisch aus, während er andererseits Zurückhaltung übt: Heutzutage würden Autoren in (generischen) Gewaltszenen schwelgen und ihre Leser mit blutigen Feuergefechten, Frauenjagden, Kannibalismus u. a. Kapriolen ‚unterhalten‘.
1973 war dies noch nicht möglich - und Jones nicht der Autor für solche Gruseleffekte. Schon die erwähnten Skrupel, die Mitch Grant regelmäßig überkommen, kennzeichnen ihn als konservativen Geist. Die Figurenzeichnungen unterstreichen, wessen Geistes Kind der Autor ist. Jones möchte durchaus ‚modern‘ sein, doch schon sein Bemühen, das Verhältnis von Mann und Frau wertneutral in Szene zu setzen, überfordert ihn. Stattdessen bietet Jones Klischees und entfesselt Eifersuchtsdramen, die angesichts des Weltuntergangs lächerlich wirken.
Schon die Verteilung der beiden Kabinen unter Deck der „Mayfly“ ist ein moralisierender Eiertanz, da weder Mitch und Bette noch Bill und Karen offen zugeben wollen, dass sie längst miteinander schlafen. Immer wieder sorgen solche ‚Probleme‘ für Konflikte, die heute überholt wirken, während Jones‘ Kritik an den militärunterstützten Maßnahmen einer US-Regierung, die der Krise nie wirklich Herr werden kann, recht verhalten bleibt. Jones vermag die brutale Unmittelbarkeit eines globalen Desasters jedenfalls nicht annähernd so lebhaft darstellen wie beispielsweise Harry Harrison in dem fünf Jahre zuvor erschienenen „Make Room! Make Room!“ (1966; dt. „New York 1999“/„Soylent Green“).
Anmerkung 1: Schon 1967 hatte Jones die Menschheit auf die Probe gestellt. In „Implosion“ (dt. unter demselben Titel) wurden die Frauen der Erde unfruchtbar bzw. brachten nur noch männliche Kinder auf die Welt.
Anmerkung 2: Der seltsame Titel wurde vom Original übernommen. Autor Jones macht mehrfach deutlich, dass in der ‚neuen‘ Welt nach „Sarah“ jede Pflanze hilft, den ursprünglichen Sauerstoffgehalt der Erde zu normalisieren, weshalb man - Brachial-Naturfreunde wird es freuen - vor einem Erschießungskommando landen kann, wenn man Blumen pflückt oder gar zertritt.
Fazit:
Die Welt wird geprüft, die Menschheit überlebt, obwohl das Primärproblem durch Fehler verschärft wird und die Folgen verheerend sind. Das globale Geschehen schildert der Autor exemplarisch aus der Sicht einiger Flüchtlinge und kondensiert es so für seine Leser. Im Ergebnis sorgt dies für (durch zeitgenössische Klischees vertieften) emotionalen Abstand - während die betonte Sachlichkeit des Katastrophenablaufs die Dramatik unterstreicht: ein zeittypischer und interessanter, aber von der Zeit überholter SF-Roman.
D. F. Jones, Goldmann
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