Ein unerwartet eindringlicher Roman, beinahe wie ein Mahnmal. Ein Szenario erschreckend real und düster und dabei doch voller Hoffnung.
Norrtälje, eine kleine Hafenstadt an Schwedens Küste. Das freundliche Miteinander wird eines Tages durchbrochen, als ein gelber Container im Hafen auftaucht. Während die Bewohner rätseln, was darin sein könnte, versuchen die Behörden Eigentümer und Verantwortliche auszumachen. Als die Fracht geöffnet wird, offenbart sich Erschreckendes. Und Norrtälje wird nicht mehr das sein, was es vorher war.
Stimmungsvoller Einstieg
John Ajvide Lindqvist hat mich auf den ersten Seiten sofort gepackt. Eine Handvoll junger Menschen und mysteriöse Ereignisse bauen unmittelbar eine dichte Atmosphäre auf. „Schwedens Antwort auf Stephen King“ verspricht ein auffälliger Aufkleber auf dem Cover. Und tatsächlich erinnert der anfängliche dramaturgische Aufbau und eine gelungene Figurenzeichnung an den Bestsellerautor. Doch schon bald zeigt sich, dass nicht nur die Kurzinfo zum Roman mehr unheimlichen Horror verspricht, als sich nun tatsächlich in der Geschichte verbirgt.
Mit gut 760 Seiten ist „Unwesen“ ein stattliches Werk. Und John Ajvide Lindqvist nutzt die Seiten, um sich ausgiebig seinen Charakteren und den örtlichen Begebenheiten zu widmen (die er äußerst gut kennt, lebt der Autor doch mit seiner Familie in Norrtälje). Johan, Siv, Max, Marko und Anna jedenfalls stehen im Vordergrund. Sie sind äußerst unterschiedliche Typen, werden uns bald mehr und mehr ans Herz wachsen. Lindqvist springt dabei in den Zeiten, entwickelt alltägliche Begebenheiten, die seinen Protagonisten als Kinder, Jugendliche und Erwachsene Persönlichkeit einhauchen. Ihr Lebensumfeld wird dabei mehr und mehr aufgefächert, Beziehungen zueinander vertiefen sich. Wir durchleben ein Auf und Ab an Gefühlen und Stimmungen. Gelegentlich geraten mir Lindqvists Ausführungen aber deutlich zu ausufernd und akribisch, seine Figuren auch mal etwas überzeichnet.
Während sich die Ereignisse in Norrtälje dramatisch zuspitzen, gewinnen die unerklärlichen Fähigkeiten von Siv und Max an Bedeutung. Können sie tatsächlich die Zukunft voraussehen? Möglicherweise sogar beeinflussen?
Pokémons und die dunkle Seite der Menschen
Eher sanft nur durchzieht das phantastische Element den Roman, blitzt dann aber in packenden Szenen auf. Lindqvist weiß, wie er uns an die Seiten fesseln muss. Offenbar fällt etwas Dunkles und Böses in Norrtälje ein, bringt Veränderung mit sich. Das gerät aber weniger übernatürlich und deutlich tiefgründiger, als vermutet. Lindqvist webt ein dichtes Geflecht aus politischen und gesellschaftlichen Kontroversen und Missständen, die sich langsam aber spürbar in Gedanken, Kritik und Handlung manifestieren. Er entwirft Momente starker Symbolik, in der insbesondere die Flüchtlingsthematik viel Raum einnimmt. Eine zusätzliche Metaebene in Form des sprechenden Windes gerät mir dabei aber deutlich zu dünn und konstruiert.
Und da sind da noch die Pokémon. Die Jagd per Handy und App nach den weltberühmten Fantasiewesen, ist ebenso technisches, modernes Gegenstück zum bodenständigen Kleinstadt-Milieu, wie verbindendes Element für eine stattliche Anzahl der Bewohner und ist gewissermaßen omnipräsent. Und, Nintendo darf mit der Switch-Konsole gleich ein weiteres Produkt aus dem Portfolio substantiell verankert wissen.
Fazit:
Nicht alles ist stimmig komponiert in „Unwesen“, aber John Ajvide Lindqvist erzählt vielschichtig und facettenreich, lässt starke Figuren mit Charakter in der kleinen Hafenstadt Norrtälje für eine bessere Zeit, für das Gute und für mehr Miteinander einstehen. Ein unerwartet eindringlicher Roman, beinahe wie ein Mahnmal, ein Szenario erschreckend real und düster und dabei doch voller Hoffnung.
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