Der Angler
- Wandler Verlag
- Erschienen: Januar 2022
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Mehr am Haken, als bewältigt werden kann
Der tragische Tod seiner Frau hatte Abraham „Abe“ Samuelson aus der Bahn geworfen. Trauer versuchte er vergeblich durch Alkohol zu mildern. Fast wäre er abgestürzt, als ein Hobby für ihn zum Rettungsanker wurde: Abe angelt. Wenn er an einem Fluss oder See seines US-Heimatstaats New York steht, schwindet die Pein.
Langsam fängt er sich - und kann so einem Arbeitskollegen und bald Freund aus einer ähnlichen Notlage helfen. Dan Drescher hat Frau und Kinder bei einem Autounfall verloren. Auch er versinkt in Depressionen, bis Abe zu ihm durchdringt. Bald angeln die beiden Freunde gemeinsam. Doch während Abes Seelenfrieden halbwegs stabil ist, gibt es für Dan immer wieder Phasen, in denen er abdriftet. Selbst Abe kann ihn dann nicht erreichen.
Deshalb ist er überrascht und froh, als Dan eine neue Angeltour vorschlägt. Er habe in den Catskill Mountains einen scheinbar unbekannten Fluss namens Dutchman’s Creek entdeckt, der nicht von anderen Anglern frequentiert wird. Dafür gibt es offenbar einen Grund, denn vor Ort werden die beiden Freunde von Einheimischen eindringlich gewarnt: An den Ufern des Dutchman’s Creek sei es nicht geheuer. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts habe sich dort ein Hexenmeister niedergelassen, der u. a. Tote zu neuem, schrecklichen ‚Leben‘ erwecken konnte.
Zwar wurde der „Angler“, wie er sich nannte, von verzweifelten, aber entschlossenen Zeitgenossen ausgeschaltet, doch besiegt war er nicht. Am Dutchman’s Creek gibt es weiterhin ‚Portale‘, die sich in eine fremde Dimension öffnen. Abe erkennt zu spät, dass nicht die Fische Dan hierhergelockt haben, sondern die Hoffnung auf eine Wiedervereinigung mit seiner Familie. Diese ‚Gunst‘ gewährt ihm ein übles Schicksal tatsächlich; auch Abe trifft seine geliebte Mary wieder. Doch die Freude ist kurz, denn zumindest er erkennt die wahre Natur dieser Wiedergänger …
Trauer schlägt Schrecken
Der Verlust eines geliebten Menschen gehört zu den schrecklichsten Ereignissen dieses Lebens. Zwar gehört der Tod zum Leben und sollte akzeptiert werden, doch wie so oft ist dies eher eine Binsenweisheit. Jede/r muss einen eigenen Weg zur Trauer = Bewältigung des Verlustes finden. Manchmal will es nicht gelingen. Die Trauer wird übermächtig und bestimmt das Denken und Handeln. Dies ist der Moment, wo der Horror einhakt. Er wirft eine simple Frage auf: Wie weit würdest du gehen, um den Tod zu ‚überlisten‘ und die verlorenen Lieben zurückkehren zu lassen? Das Verb steht hier in „Als-ob“-Anführungsstrichen, denn selbstverständlich bleibt ein so erfüllter Wunsch eine zweifelhafte Gunst.
Die meisten Religionen verdammen solche Bemühungen, deren Gelingen in der Regel mit der Unterstützung durch negativ besetzte Mächte gleichgesetzt wird. Im Christentum ist es „der Teufel“, der zu allem Überfluss jene betrügt, die sich an ihn wenden. Die Strafe folgt stets auf dem Fuß, und sie fällt hart aus. Dass Trauer den Geist verwirren und jegliche Bedenken auslöschen kann, gilt nicht als mildernder Umstand. Hier gelten alttestamentarische Regeln, denen die Nächstenliebe fremd ist.
„Der Angler“ nutzt das Phänomen der Trauer und den damit drohenden Kontrollverlust als Basis für ein Geschehen, das diesen Rahmen zwar sprengt, aber immer wieder zum Ausgangspunkt zurückkehrt. Auf drei Zeitstufen wird diese Trauer zum Auslöser eines Dramas, das aus dem Versprechen des ultimativen Trostes das Grauen filtert: Der Mensch kann zwar den Tod scheinbar gängeln, doch weil er nie wirklich begreift, mit welchen Kräften er sich anlegt, wird aus einer persönlichen Tragödie eine Katastrophe, die in unserem Fall einen ‚Riss‘ zwischen dem Diesseits und einer unheimlichen Jenseits-Welt offenhält.
Der Verlockung folgt zweifelhafte ‚Erfüllung‘
Verantwortlich dafür ist der titelgebende „Angler“, dessen Geschichte Verfasser John Langan einerseits andeutungsweise, aber andererseits detailliert dort erzählt, wo sie den Horror erklärt, der im frühneuzeitlichen Ungarn beginnt, viele Jahre später über die Bewohner einer einsamen Siedlung in Neuengland kommt und schließlich in der modernen Gegenwart die Freunde Abe und Dan ins Verderben lockt. Der „Angler“ ist selbst ein Opfer, was eine tragische Figur aus ihm macht. Gleichzeitig ist er ein Fanatiker, der buchstäblich Himmel und vor allem Hölle in Bewegung setzt, um seine gemeuchelte Familie zurückkehren zu lassen.
Die Intensität dieses Drangs ist unabhängig von Ort und Zeit. In der Rahmenhandlung werden Abe und Dan auf die Probe gestellt. Abe besteht sie, Dan verfällt der trügerischen Hoffnung auf die Erneuerung des Familienglücks. Darin spiegeln sich die Ereignisse in jenem Camp, das um 1900 zum Ausgangspunkt des Grauens wurde, weil der „Angler“ in einem Akt unbedachten Mitleids jene Macht einsetzte, die den Kontakt zwischen den Welten so gefährlich macht. Der Mittelteil dieses Romans informiert über diese Ereignisse, von denen Abe und Dan wissen. Ihre Sehnsucht treibt sie dennoch an den Dutchman’s Creek, wo sie nicht warten müssen, bis der Schrecken beginnt.
Von Spuk kann man dabei nicht sprechen, denn die Welt jenseits des ‚Risses‘ ist real. Sie gehorcht anderen (Natur-) Gesetzen, und sie beherbergt fremdartig-gefährliche Kreaturen. Die Tragödie des „Anglers“ liegt vor allem darin, dass er nie begreifen kann oder will, dass er sich die Macht der fremden Dimension nur oberflächlich anzueignen vermag, ohne sie jemals zu beherrschen. Er mag unsterblich geworden sein, blendet jedoch aus, dass dies vor allem seine Qualen verlängert, während die Rückkehr des verlorenen Glücks eine Fiktion bleiben wird - und muss.
Die Schrecken des Multiversums
Langan nimmt sich (manchmal ein wenig zu viel) Zeit für die Entwicklung seines Garns. Der erste Teil legt die Basis für den dritten, in dem Abe und Dan vor Ort erleben, was die Protagonisten aus Teil 2 aufgrund eigener Erfahrungen nur zu gut wussten. Es folgt ein Epilog, der in einer letzten bösen Überraschung gipfelt. Ein Happy-End entfällt und muss entfallen, wenn man wie Langan die Story konsequent vorantreibt und auflöst. Dies benötigt eine (trügerische) Muße, die ihm die ungeduldigen Konsumenten des modernen Hau-Drauf-Horrors womöglich nicht zugestehen. Langan beschreibt in einem Nachwort seine Probleme auf der Suche nach einem Verleger: Für die ‚Literaten‘ war „Der Angler“ zu genrelastig, für Horror-Verlage zu ‚literarisch‘.
Faktisch ist „Der Angler“ ein ehrgeiziges Werk, mit dem der Verfasser mehr als anderthalb Jahrzehnte gerungen hat. Es hat Tiefe, führt auf interessante Abwege, schwelgt in wunderschönen und grässlichen Details, ist atmosphärestark - und spielt kundig mit der Geschichte des Horrors. Wer sich darin auskennt, weiß zu schätzen, wie Langan einerseits anerkannte Meister wie H. P. Lovecraft, Peter Straub, T. E. D. Klein, Laird Barron und natürlich Stephen King ehrt, dabei jedoch seinem eigenen Weg folgt. Für den raschen Konsum taugt „Der Angler“ nicht.
Dass in diesem unseren Land, welches die (nur bzgl. ihres Titelausstoßes) ‚großen‘ Verlage in eine Horror-Diaspora verwandelt haben, in der formal und inhaltlich x-fach kopierter Flach-Grusel dominiert, ein solcher Roman erscheint, nicht nur ausgezeichnet übersetzt, sondern auch hochwertig gedruckt und trotzdem kostengünstig ist, kann man als Leser nur bewundern und sich freuen. Die US-amerikanischen „Horror Writers Association“ hat Langan 2017 für „Der Angler“ mit dem „Bram Stoker Award“ für den besten Horror-Roman des Jahres ausgezeichnet. Eine Übersetzung war überfällig. Hier ist sie - und besser könnte sie nicht sein!
Fazit:
Epische Horrorgeschichte auf mehreren zeitlichen Ebenen, die plausibel zusammengeführt werden. Zur inhaltlichen und formalen Qualität kommt eine inhaltliche Tiefe, die über die plakative Präsentation blanken Schreckens weit hinausgeht. Die Übersetzung ist vorzüglich, auch als Druckwerk ist dieses Buch eine seltene (oder leider selten gewordene) phantastische Leistung.
John Langan, Wandler Verlag
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