Das Jahr der stillen Sonne

  • Goldmann
  • Erschienen: Januar 1975
  • 0
Das Jahr der stillen Sonne
Das Jahr der stillen Sonne
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Michael Drewniok
80°1001

Phantastik-Couch Rezension vonMär 2023

Zeitreise in eine gescheiterte Zukunft

In diesem Jahr 1978 fragt sich der Präsident der USA, ob man ihn wiederwählen wird. Er muss darüber nicht spekulieren, denn Wissenschaftlern einer regierungsnahen Behörde ist es gelungen, eine funktionstüchtige Zeitmaschine zu konstruieren, die sowohl Reisen in die Vergangenheit als auch in die Zukunft ermöglicht.

Besagter Präsident ist natürlich auf die Zukunft fixiert. Nach aufwändigen Tierversuchen sollen nun Menschen die Maschine besteigen. Natürlich erhebt das Militär Anspruch auf seine Beteiligung, weshalb Major William Moresby (Luftwaffe) und Korvettenkapitän Arthur Saltus (Marine) an Bord gehen werden.

Brian Chaney, der dritte Mann, ist Zivilist. Er hat sich einen Namen als Futurologe gemacht. Seine Prognosen für die nahe Zukunft bilden die Basis für eine Reihe von Zeitreisen, die in mehreren Etappen bis ins Jahr 2000 führen sollen. Die daraus resultierenden Erkenntnisse sollen helfen, sich auf zukünftige Krisen vorzubereiten.

Die Zeitreisen an sich gelingen, aber es gibt dennoch unerwartete technische Probleme. Sie erschweren eine Mission, die ohnehin die sorgfältigen Planungen Lügen straft. Schon der kurze Sprung ins Jahr 1980 enthüllt nicht nur weltweite, sondern auch nationale Krisen, die das Land ins Chaos stürzen.

Die Schwierigkeiten nehmen 1999 bzw. 2000 zu. Moresby und Salten schaffen es nicht aus dem Forschungsstützpunkt hinaus, weshalb nur ansatzweise klar wird, was in den zukünftigen USA geschieht. Als Chaney sich auf seine dritte Zeitreise begibt, kann er am Ziel nicht einmal das genaue Jahr bestimmen. Die Zukunft hat sich verselbstständigt, der Vergangenheit nützt das Wissen um die Ereignisse von Morgen nichts - und Chaney findet sich in einer Welt wieder, auf der für ihn kein Platz mehr ist …

Wissen ist (Ohn-) Macht

Welcher Politiker wäre nicht begeistert über die Möglichkeit, einen Blick in (seine) Zukunft werfen zu können? Mit dem daraus gewonnenen Wissen könnte man gescheiterte Pläne revidieren, bevor sie nutzlos in die Tat umgesetzt würden. Sicherlich noch begehrter wäre die Chance, die Schachzüge von Kontrahenten und Feinden zu kennen, die man problemlos aushebeln könnte.

Dass sich womöglich nicht nur die Zeit selbst ‚wehren‘ würde, indem sie Paradoxa produziert, was die Zukunft wieder in Nebel hüllt, sondern auch und wieder einmal der Mensch das Primärproblem darstellen dürfte, spielt Wilson Tucker (1914-2006) im Rahmen eines SF-Kammerspiels durch: Obwohl die in Erfahrung gebrachten Informationen die gesamte Erde betreffen, konzentriert sich die Handlung auf wenige Personen und nur einen Ort - eine Forschungsstation in Jolliet, US-Staat Illinois. Sie werden die Zeitreisenden nur einmal und nur kurz verlassen und ansonsten ihre Schlüsse aus den Veränderungen ziehen müssen, die sie auf dem Gelände der Station feststellen.

Sowieso ist von Anfang an Makulatur, was zahllose Spezialisten angeblich (bzw. scheinbar) bis ins Detail vorbereitet haben. Wilson streut einschlägige Verdachtsmomente ein: Die Zeitmaschine funktioniert, doch bestimmte Nebeneffekte lassen sich nicht in den Griff bekommen. Je weiter die Reisenden in die Zukunft vorstoßen, desto sinnloser werden die Vorgaben, die sie in einer Gegenwart erhalten haben, die sich als fixe, nicht wirklich ‚korrigierbare‘ Vergangenheit erweist.

Bekannte Zukunft und Störfaktor Mensch

In erster Linie scheitert das Projekt wie schon angedeutet am Menschen selbst. Die Zeit ist offensichtlich als Phänomen komplexer als angenommen; jedenfalls entzieht sie sich dem Bemühen, ihren Ablauf zu manipulieren. Obwohl in der Gegenwart des Jahres 1978 umgehend berücksichtigt wird, was die drei Zeitreisenden in Erfahrung bringen, wird der tatsächliche Umfang der anstehenden Umwälzungen sträflich unterschätzt. Die Zukunft überrollt letztlich jene, die sie zu kennen glauben.

Tucker übt hier Kritik an einer ‚Wissenschaft‘, die gerade auf dem Weg zum Höhepunkt ihrer Popularität war. „Futurologen“ gab es schon seit den 1940er Jahren, und selbstverständlich hatten auch früher Fachleute versucht, auf der Basis gegenwärtiger Fakten Aussagen über die Welt der Zukunft zu gewinnen. Die neue Computertechnik schien endlich die ersehnte Möglichkeit zu bieten, gewaltige Faktenmengen aufzunehmen, zu verarbeiten und auszuwerten.

Der Futurologie hilfreich war eine Gegenwart, die mehr und mehr von Konflikten und Krisen geprägt zu sein schien; Der kalte Krieg, die atomare Apokalypse, das sichtbare Ende irdischer Ressourcen, während Armut, Hunger und Umweltzerstörung eine stetig wachsende Bevölkerung bedrohten, wurden verschärft durch innenpolitische, wirtschaftliche und soziale Verwerfungen, die nie wirklich angegangen, sondern durch Druck und sogar Gewalt ‚gelöst‘ werden sollten. Tucker pickt sich den zeitgenössischen Rassismus heraus und prognostiziert einen ‚Rassenkrieg‘, ohne diesen Aspekt auf die Spitze zu treiben - dies ist nicht sein Ziel. Ihm geht es um die Nutzlosigkeit von Prognosen, die sich nie so verwirklichen, wie sie formuliert wurden. Dies unterstreicht er mit dem Hinweis auf Schriftrollen aus biblischer Zeit, in denen ebenfalls Voraussagen getroffen wurden, die nie jemand verstand oder verstehen konnte.

Vergebliche Hoffnung auf Perfektion

Viel Raum gibt Tucker der anstehenden Mission, während er die technische Seite des Unternehmens kurz abhandelt: Solche Science Fiction ist „Das Jahr der stillen Sonne“ nicht! Er beleuchtet stattdessen eine Maschinerie miteinander verzahnter Politik und Wissenschaft, die sich gegenseitig einer Bedeutung versichern, die auf Einbildung beruht. Die Reise/n in die Zukunft werden zu einer immer länger werdenden Kette ungeahnter Ereignisse, die jede Zeitstufe auf eine Weise beeinflussen, die sich den ‚Spezialisten‘ hartnäckig entzieht. (Anders als Tucker benötigten die realen Futurologen und ihre Anhänger noch viele Jahre, bis sie zum selben Schluss kamen; Prognosen werden weiterhin getroffen, aber zahlreiche Bockschüsse in Gestalt peinlich falscher Ankündigungen sorgen für eine relativierende Haltung.)

So werden unsere Zeitreisenden nie zu tatkräftigen ‚Helden‘. Sie bleiben Zuschauer eines Dramas, für das ihnen die Technik Plätze in der ersten Reihe beschert. Selbst vorgeblich gesicherte Fakten über die Zukunft werden fehlinterpretiert und in ihrer Reichweite unterschätzt. Nie bleibt Zeit genug für eine gründliche Bestandsaufnahme, die den Rückblick auf die Vergangenheit nicht ersetzt: Geschichte ist eine Folge und ein Gemenge von Abläufen. Es gibt höchstens Zwischenetappen, aber selten Endpunkte.

Selbst Chaney, der ohnehin skeptische Futurologe, verleugnet, was er eigentlich gelernt hat, und lässt sich instrumentalisieren, weil er der Faszination eines Projekts unterliegt, das ihm ermöglicht, wovon ein Futurologe träumt: die persönliche Überprüfung getroffener Voraussagen. Für ihn hält die Zukunft (bzw. Tucker) eine besonders böse (hier nicht gespoilerte) Überraschung bereit, die ihn im Finale zwar als Überlebenden, aber als Verlierer dastehen lässt. Es bleibt (ihm) nur die Erkenntnis, dass die Sonne wieder ‚still‘ an einem Himmel steht, der nicht mehr durch Flugzeuge oder Smogwolken in Aufruhr gebracht wird, weil Zivilisation und Technik nicht mehr existieren.

Anmerkung: Das „Center for the Study of Science Fiction“ an der „University of Kansas“ zeichnete „Das Jahr der stillen Sonne“ mit einem „John W. Campbell Memorial Award“ für den besten SF-Roman des Jahres aus. Der Roman war außerdem für einen „Nebula-“ und einen „Hugo Award“ nominiert.

Fazit:

Nicht auf die Technik, sondern auf den Menschen konzentrierte SF, in der die Zeitreise nicht für abenteuerliche Zwischenfälle sorgt, sondern die Nutzlosigkeit nur scheinbaren Vorauswissens darlegt: eine nüchtern-ernüchternde, lakonische und mit bitteren Spitzen gewürzte Lektion, die nichts von ihrer Überzeugungskraft verloren hat.

Das Jahr der stillen Sonne

Wilson Tucker, Goldmann

Das Jahr der stillen Sonne

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