Meister der Dschinn
- Cross Cult
- Erschienen: September 2023
- 2
Turbulenter Alltag einer magisch erweiterten Welt
Vor vier Jahrzehnten gelang es dem Mystiker al-Dschahiz, ein Portal zwischen der realen Welt und jener Sphäre zu öffnen, in der mystische Wesen existieren. Seither ist die Magie auf die Erde zurückgekehrt. Sie hat die Menschheitsgeschichte verändert und die Wissenschaft beflügelt, sorgt aber immer wieder für Zwischenfälle: Nicht alle Bewohner des ‚Jenseits‘ kommen mit freundlichen Absichten in diese Welt.
Im Jahre 1912 gehört die Magie in vielen Ländern längst zum Lebensalltag. Im ägyptischen Kairo existiert sogar ein „Ministerium für Alchemie, Verzauberungen und übernatürliche Wesen“, das sich einerseits um Koexistenz bemüht, aber andererseits jene Kreaturen zu zügeln versucht, die sich nicht in den Status Quo einfügen wollen.
Aktuell scheint sich eine Sensation - oder Krise - anzubahnen: Ein definitiv zaubermächtiges Wesen, das sich als der zurückgekehrte al-Dschahiz bezeichnet, will der aus seiner Sicht verderbten Welt der Gegenwart ein Ende bereiten. Schon sein erster Auftritt kostet zwei Dutzend Menschen das Leben, und bald mischt sich „al-Dschahiz“ in die Globalpolitik ein.
Das Ministerium setzt seinen besten ‚Mann‘ auf den Fall an: Trotz ihrer Jugend hat Fatma el-Sha’arawi bereits Erfahrungen mit dem Übernatürlichen gemacht. Sie soll klären, wer sich als al-Dschahiz ausgibt und welche Absichten dieser Zauberer hegt. Fatma verfügt über ein Netzwerk oft kruder Mitstreiter, auf das sie sich stützen muss, als sich herausstellt, dass der umtriebige Magier buchstäblich das Ende der Welt plant ...
Die elementare Kraft der Erzählung
Wenn man ein gewisses (Lese-) Alter erreicht hat, lässt man nicht mehr so leicht wie früher einfangen. Man verliert die offene, kindliche Begeisterung, lernt mit der Lektüre und lässt sich nicht mehr durch Tricks aufs unterhaltsame Glatteis führen. Irgendwann weiß man, dass auch bzw. gerade in der Trivialliteratur das Rad nicht neu erfunden wird: Ideen und Handlungen kehren wieder. Sie werden gegenwartstauglich aufbereitet, doch in ihrer Substanz bleiben sie zumindest älteren Lesern erschreckend oft bekannt.
Den Autoren kann man dies nur bedingt vorwerfen. Anders als das Universum ist die Welt der Phantasie endlich. Wirklich Neues ist entweder rar oder so radikal ‚anders‘, dass es ein Publikum abschreckt, das längst nicht so unternehmungslustig ist, wie es die Liebe zum Genre Phantastik scheinbar vorgibt. Tatsächlich mästet eher die gelungene Variation des Bekannten jenen Wurm, den das unterhaltungshungrige Lesevolk besonders lecker findet.
Die gestrenge Literaturkritik arbeitet sich gern an dieser geistigen Trägheit ab. Wer nicht in ihren Chor einstimmen mag, freut sich über Romane wie diesen, deren Autoren eine interessante Geschichte unterhaltsam und lesbar über die volle Distanz bringen. Hinzu kommt eine von Autor P. Djèlí Clark meisterlich ausgearbeitete, den Plot unterfütternde ‚morgenländische‘ Kulisse. Entspricht sie der (historischen) Realität? Wen kümmert es, denn Clark erfüllt stattdessen die eigentliche Pflicht des Erzählers: Er spinnt ein vortreffliches Garn!
Mehr als „1001 Nacht 2.0“
„Meister der Dschinn“ ist großartig als prachtvolles, vor faszinierenden und stimmungsvollen Details schier aus den Nähten platzendes, aber nie überladenes Epos, dessen Schöpfer den Plot nie aus den Augen verliert und diesen in ein Umfeld versetzt, das vor Leben brodelt! Clark gelingt das Kunststück, ‚sein‘ Kairo nicht zur fantasy-typischen Karikatur à la Hollywood gerinnen zu lassen. Zwar sind ihm Stereotypen (vor allem in einem einschlägig actionlastigen Finale) keineswegs fremd. Dennoch gelingt es ihm, seiner Welt eine Eigenständigkeit zu verleihen, die leicht aufgesetzt wirkt, wenn Autoren sich in eine Kultur wagen, der sie selbst nicht angehören.
„Phenderson Djèlí Clark“ ist nicht nur ein talentierter Erzähler, sondern weiß auch, wie man eine Welt erschafft. Intensive Recherche ist er gewohnt als Historiker, der unter seinem Geburtsnamen Dexter Gabriel an der Universität Connecticut lehrt. Dass er die Flut der fachmännisch gewonnenen Informationen nicht über seiner Geschichte zusammenschlagen, sondern sie dort einfließen lässt, wo sie dem Plot Glaubwürdigkeit und Atmosphäre verschaffen, ist ein Geschenk für seine Leser.
Clarks Kairo ist eine turbulente, aber stimmig in sich ruhende Welt. Der Stempel „Steampunk“ soll in der Science Fiction oft Geschichten rechtfertigen, die sich in bizarren Bildern erschöpfen, die möglicherweise interessante, aber für das Geschehen höchstens randständig relevante Kreationen präsentieren. Clark hält seine Einfallsflut unter Kontrolle. Ob „Kesselblech-Eunuchen“, ‚inkludierte‘ Dschinn oder der deutsche Kaiser Wilhelm II. mit einem Kobold auf der Schulter: Stets gibt es eine Begründung für erstaunliche bis schräge, aber in dem vom Verfasser gesteckten Rahmen harmonisch funktionierende Kuriositäten.
Eine Welt mit Potenzial
Eine Verfilmung von „Meister der Dschinn“ - umgesetzt von einem Streaming-Sender als (Mini-) Serie - kann man sich problemlos vorstellen. Der Künstler Kevin Hong hat für die Umschlag-Innenseiten zwei Szenen aus dem Roman aufgegriffen. Er belegt, wie bildhaft Clark formuliert. Darüber hinaus stellt er einprägsame Figuren ins Geschehen. Es ließe sich trefflich darüber streiten, ob es Clark dabei mit dem „woke“-Faktor übertreibt; so ist Fatma nicht nur eine immer wieder demonstrativ als solche agierende emanzipierte Frau in einer maskulin geprägten (aber diesbezüglich in Auflösung geratenen) Gesellschaft, sondern außerdem lesbisch. Überhaupt reitet Clark Attacken gegen politische und soziale Missstände, die definitiv auch in der gegenwärtigen Welt akut sind. Ungeachtet dessen haben seine Figuren Persönlichkeit und Profil, und man schließt sie ins Herz.
Wir werden Fatma & Co. in neuen Abenteuern erleben. Obwohl „Meister der Dschinn“ sich auf Kairo als Schauplatz beschränkt, geht Clark oft darauf ein, wie der Rest der Welt sich seit der Rückkehr der Magie entwickelt hat. Dabei hält er geschickt den Kontakt zur Realhistorie. So steht man auch in diesem Jahr 1912 vor einem (Ersten) Weltkrieg: Die Magie ist nicht das Ende einer von Nationalismus beherrschten Welt. Sie ändert höchstens die Art der Kriegsführung. Es kann und wird noch viel geschehen in dieser phantastisch aufgeladenen Vergangenheit. Dass dabei auch die Batterien der eingangs erwähnten älteren Leser aufgeladen werden, ist eine selten gewordene Gunst.
Anmerkung 1: Clark ließ Fatma el-Sha’arawi vor „Meister der Dschinn“ einen ‚Probelauf‘ absolvieren. 2016 trat sie erstmals in der Kurzgeschichte „A Dead Djinn in Kairo“ auf. Drei Jahre später folgte eine weitere Story aus Kairo: „The Haunting of Tram Car 015“. Beide Erzählungen werden in deutscher Übersetzung erscheinen.
Anmerkung 2: Die „Science Fiction and Fantasy Writers of America“ verleihen seit 1966 alljährlich den „Nebula Award“ u. a. für den besten Roman des Jahres. Hier küren Schriftsteller jene, die sie, deren Lebensunterhalt das Schreiben ist, für preiswürdig halten. Clark wurde 2021 für „Meister der Djinn“ ausgezeichnet.
Fazit:
„Steampunk“-Science Fiction mit Fantasy- und Horrorelementen, deren Verfasser eine wendungsreiche Handlung auf dem Rücken eines soliden Plots schwungvoll über die gesamte Distanz bringt und dafür eine ebenso fantastisch wie plausible Alternativ-Welt erschafft: Erzählkunst und Schriftstellerhandwerk finden vorbildlich zueinander.
P. Djèlí Clark, Cross Cult
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